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Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille

Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille

Titel: Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gear & Gear
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gelaufen, als ihr ein scharfer Stich durch die Brust fuhr. Sie hörte und fühlte den dumpfen Aufschlag, wankend, und verlor fast das Gleichgewicht. Jetzt wurde der Stich zu einem brennenden Schmerz, der weißglühend durch ihre Lungen und ihre linke Brust schnitt. Nach weiteren vier Stolperschritten fiel sie auf die Knie. Sie war benommen, sie verstand zunächst nichts. Dann blickte sie an sich hinunter.
    Die durchscheinende Obsidianspitze hatte das Gewebe ihres Kleids durchbohrt; sie glitzerte unter ihren linken Brust. Entgeistert betastete sie die scharfe Spitze, überrascht, wie fest der Pfeil in ihrem Körper saß.
    »Ich bitte dich«, rief er. »Wehr dich nicht! Ich muß das schnell erledigen.«
    Schritte kamen auf dem nassen Sand stampfend näher. Er kauerte sich vor sie hin und blickte sie durch die Augenlöcher der glorreichen geheiligten Maske an. Es ist der Dachs-Thlatsina. Die Augenlöcher waren blaue Schlitze, und eine weiße Linie, rot eingefaßt, lief der Länge nach über das schwarze Gesicht. Rabenfedern säumten den Kopf. Die auf der langen schwarzen Schnauze aufgemalten weißen Zähne leuchteten. Er hatte einen Bogen in der linken Hand und einen weiteren Pfeil in der rechten. Die brutale Kraft des Nordens wohnte in den Knochen des Dachses…
    Ein furchtbares Gewicht lastete auf ihrer Brust, und Blut schäumte auf ihren Lippen. Sie hustete, und der Schmerz war schrecklich.
    Wolkenspiel starrte in seine blau unterlaufenen Augenhöhlen, als er einen weiteren Pfeil nahm. Der Schaft zitterte vor dem Hintergrund der vom Mond beleuchteten Wolken.
    Er flüsterte: »Du bist doch das Sonnenwend-Mädchen.«

V IERTER T AG
    Fuchsrote Lichtschleier verhängen die Gipfel, während die Sonne untergeht und ihr Schein langsam über die Erde zurückweicht. Das seichte Gewässer in der Senke, wo ich sitze, ist zum Stillstand gekommen. Der einzige Laut kommt von dem pfeifenden Blauhäher in den Pinien weit unter mir. Heute hatte ich eine Vision.
    Sie kam über mich, während ich die Augen weit offen hatte. Zuerst nahm ich die Bilder wie aus großer Entfernung wahr. Ich blinzelte und versuchte sie genauer zu sehen. Schwache Stimmen drangen durch die Stille. Unvermittelt schössen die Bilder auf mich zu, wurden größer, öffneten sich wie ein Schlund, bis diese unirdische Welt die Wüste verschlang.
    Ich sah mich durch einen See von Blut waten. Der Wolf-Thlatsina watete neben mir, seine hohen Mokassins sandten silberne Ringe nach oben. Er hatte einen Wolfskopf mit gespitzten Ohren und eine lange schwarze Schnauze. Sein Menschenkörper war mit weißer Erde bemalt.
    Vor uns tauchte eine merkwürdige weibliche Kreatur auf, dunkel und gefiedert, und jagte die funkelnden Lichtpunkte aus dem roten See, wo sich die Morgensonne spiegelte. Sie verzehrte jeden, den sie fing, verschlang ihn und stieß Rufe aus, die wie die Schreie einer Frau klangen. Mit einem Schlag hielt sie inne, jagte nicht weiter und wandte sich gegen uns. Mit aufgesperrtem Maul kreischte sie auf, breitete die Schwingen aus und flog auf den Thlatsina zu.
    »Hilf mir!« schrie der Thlatsina.
    Ich brüllte sie an, sie solle weggehen, warf mich dann auf ihre Beine, um sie zu Fall zu bringen. Sie wehrte sich. Ich mußte kämpfen, um sie so lange unter Wasser zu drücken, bis sie ertrunken war. Aber während ihr Blut in den See floß, gewann eine neue Kreatur Gestalt: Schön und golden tauchte ein Junge auf und schwamm auf dem Blut.
    Heftiger Seegang setzte ein. Große Wellen wälzten sich heran und brachen schäumend und heiß über uns wie geschmolzener Fels. Der See wurde tiefer und tiefer, bis er das Land samt den Menschen verschlang und am Bauch des Himmels nagte.
    Der Thlatsina ertrank.
    Ich sah, wie die Ordnung sich auflöste und Chaos entstand.
    Nichts blieb, wie es war. Nur Blut, soweit ich sehen konnte.
    Als die Vision verblich, schaute ich mit aufgerissenen Augen auf das sonnige Panorama. Die Finken schwangen sich trillernd durch die Wolken herab.
    Ich hatte das sonderbare Gefühl, daß ich das alles nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, sondern durch die Augen eines andern. Eines Mannes. Eines mit Macht begnadeten Mannes - der voller Verzweiflung war.
    Aber ich weiß nicht, was die Vision zu bedeuten hat.
    Seit ich sechs Sommer alt geworden war, habe ich jeden Händler mit meinen Fragen gepeinigt und dabei entdeckt, daß die Träumer überall vom Ende der Zeiten sprechen.
    Hatte ich etwa das gesehen?
    War das mein eigener Tod?
    … Oder meine eigene

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