Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
den Augen die durchgehende Kinnlinie nach, bevor er ihr wieder in die Augen blickte. Er stellte fest, daß Nachtsonne ihn beobachtete, und da war etwas in ihrem Ausdruck, was seine Magenmuskeln anspannte. Sie wirkte… entschlossen, als hätte sie eine Entscheidung getroffen und stellte sich insgeheim Fragen. Fragen, die er nicht verstand.
Wie im Traum beugte sie sich vor und drückte ihre Lippen auf seine. Verwirrt und benommen blieb er reglos sitzen. Donner dröhnte über den Canyon, und Blitze schössen über den Himmel. Nachtsonne rutschte näher und legte den Arm um seine Hüften. »N-Nachtsonne, bitte tu das -«
Sie bedeckte seinen Mund mit ihrem Mund, und ihre Küsse wurden dringend. Eine warme Flut schoß durch seine Adern. Ihre Heftigkeit machte ihm angst. Er hob die Arme und ließ sie unsicher auf halber Höhe hängen. Überlaut pochte das Blut in seinen Ohren. Die Umarmung von Nachtsonne wurde fester, und das Gefühl ihrer Brüste auf seiner Brust machte ihn schwindlig.
Sie beugte sich vor und stieß ihn auf den Boden; sie streckte sich auf ihm aus, und er fühlte ihre Tränen warm über seine Wangen rinnen. Ihr ganzer Körper erbebte unter ihrem lautlosen Schluchzen. Er nahm ihr Gesicht fest in die Hände und zwang sie, ihn anzusehen. »Warum tust du das? Willst du deinem Mann weh tun?«
Nachtsonne sank über ihm zusammen und begrub ihr Gesicht in seinen langen Haaren. »Eher um mir selbst weh zu tun, glaube ich.«
Ihre Tränen liefen über seinen Nacken. Diese Antwort traf ihn ins Herz. Sanft schlang er seine Arme um ihren Rücken. Eine freundliche Geste, weiter nichts. »Und warum?«
»Ich kann nicht so sein, wie er mich will.«
Er murmelte in ihr Haar hinein: »Menschen müssen sein, wie sie sind. So hat uns der Schöpfer erschaffen.«
»Nicht mich!« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Meine Pflicht ist, so zu sein, wie die Leute mich wollen. Ich bin nie ich selbst gewesen, ich -«
»Dann ist es vielleicht Zeit, damit anzufangen.« Sie durchforschte sein Gesicht. »Ich habe Angst, daß mich die Ersten Menschen hinauswerfen.«
»Nun ja«, sagte er und neigte den Kopf, »das müssen wir in Kauf nehmen.«
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Du glaubst, es lohnt sich, alles aufzugeben, was ich habe, um die zu sein, die ich sein will?«
»Natürlich.« Eisenholz wischte ihr die Tränen von den Wangen und genoß für einen weiteren kurzen Augenblick ihre weiche, zarte Haut. »Ich weiß, ich bin unwiderstehlich«, sagte er grinsend, »aber ich glaube, wir sollten das jetzt lassen.«
»Ja, das glaube ich auch. Verzeih mir.« Nachtsonne rieb ihre Wange an seiner Handfläche, bevor sie sich aufsetzte. Es war eine derart intime Geste, von der Zärtlichkeit einer Geliebten, daß ihm das Grinsen verging.
Er zog die Hand zurück und schloß seine tauben Finger.
Sein Ausdruck mußte sie erschreckt haben, denn sie blieb reglos sitzen und schaute ihn an, als fürchtete sie das, was er sagen könnte.
… Das Kollern eines Truthahns in dem Zimmer unter ihnen brachte Eisenholz in die Gegenwart und nach Krallenstadt zurück. Er schaute hinab zur regenglatten Plaza. Noch einmal Kollern und dann ein Flügelflattern.
Eisenholz legte den Kopf zurück, dem Regen zugewandt, als ob dieser ihm die Erinnerung aus seinen Augen waschen könnte.
Trotz der langen einsamen Sommer, trotz einer Tochter, die ihm geboren und wieder genommen wurde, hatte Eisenholz seine Liebe zu Nachtsonne nie bereut. Sollte er morgen wegen dieser kurzen Monde der Freude sterben, so wäre das ein geringer Preis, den er zahlen müßte.
Sie zu lieben war das einzige in seinem Leben, was wirklich wichtig gewesen war.
21. K APITEL
Wolkenspiel ging rasch über den dunkler werdenden Pfad, im Bestreben, Krallenstadt zu erreichen, bevor der Sturm an Stärke gewann. Eine halbe Zeithand zuvor waren schwarze Wolken über den Himmel gezogen und hatten die ersten Abendleute ausgelöscht. Nieselregen hatte für eine Weile eingesetzt und dann aufgehört. Aber er würde wiederkommen. Blitze fuhren über den östlichen Horizont.
Sie fiel in Laufschritt. Die Canyon-Wand ragte vor ihr in die Höhe wie ein brütender Riese jenseits des Wassergrabens, mit silbernen Mondlichtflecken gesprenkelt. Vor ihr hatte das Gewässer des Rechten Wegs eine tiefen, zerklüfteten Graben ausgewaschen. Der Pfad führte dort hinab, durch eine stille, feuchte Welt.
Wolkenspiel stieg abwärts, die Schritte so lautlos wie im Traum. Ein Rinnsal murmelte ganz unten. Sie übersprang
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