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Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille

Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille

Titel: Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gear & Gear
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gewesen.«
    Maisfaser zog sich die Decke bis zum Hals hoch und schaute ihn von der Seite an. »Morgen werde ich dir eine Salbe für deinen Sonnenbrand machen.«
    Er gähnte schläfrig und warf noch Holz auf das Feuer. Tiefrote Lichtkringel huschten über die Decke. »Vielleicht merke ich dann etwas. Im Augenblick will ich auch nur schlafen. Ich wünsche dir einen schöne Wanderung ins Jenseits, Seide.«
    »Das wünsche ich dir auch«, sagte sie und schloß die Augen.
    Hinter ihren Lidern stauten sich heiße Tränen. Ihre Träume würden öde und leer sein, denn ihre Familie war nicht im Jenseits. Sie hatte die Leichen nicht gewaschen und die vorgeschriebenen Lieder der Totenklage nicht gesungen, den Leichenzug nicht zum heiligen Sipapu angeführt, wie es ihre Pflicht gewesen wäre. Ihre Eltern und ihr Bruder würden heimatlose Geister sein, über die Erde wandernd, klagend und verloren.
    Als die zurückgestauten Schluchzlaute ihre Brust quälten, preßte sie die Augenlider fest aufeinander. Eine große Hand strich ihr sehr sanft übers Haar. Sie drehte sich um; Sängerling starrte sie an. Seine graue Decke war zurückgeschlagen und enthüllte seine nackte Brust. In seinen Augen war tiefe Sorge. »Alles in Ordnung mit dir?«
    Maisfaser stützte sich auf einen Ellbogen und versuchte, tief durchzuatmen. Heiser sagte sie: »Sängerling, ich… ich habe sie nicht beerdigt … meine Familie. Ich hatte zuviel Angst. Da liefen Dutzende von Kriegern durch das Dorf. Die Menschen schrien. Ich konnte mich nicht rühren. Ich konnte gar nichts machen, mich nur auf einem Hügel verstecken, und - und -«
    »Schsch!« flüsterte er und strich ihr das Haar aus den Augen, damit er sie sehen konnte. Er lächelte sanft. »Sie werden warten. Wenn du willst, gehe ich mit dir zurück.«
    Sie erschauerte, als sie ausatmete.
    Er durchforschte ihr gequältes Gesicht. »Wir werden sie finden und uns um sie kümmern. Wir können Schleppbahren machen und sie auf den heiligen Straßen entlangziehen. Vielleicht dauert es ein paar Tage, aber wir schaffen es. Und mit unseren Gesängen begleiten wir ihre Seelen ins Jenseits. Ich bin neu als Sänger, aber ich glaube, ich kenne den ganzen Text der Totenklagen.«
    Maisfaser legte sich wieder auf den Boden zurück, und der Arm diente ihrem Kopf als Kissen. Ihre Kehle schmerzte. »Vielen Dank, Sängerling.«
    Er strich ihr wieder übers Haar. »Alles wird gut werden. Keine Sorge mehr. Die Geister verstehen mehr, als die Menschen glauben.« Er zog die Decke über sich. »Schlaf gut, Seide.« Maisfaser lauschte seinen gleichmäßigen Atemzügen und sank erschöpft in Schlaf.

24. K APITEL
    Der rosige Schein der Dämmerung fiel durch die östliche Tür und erhellte Maisfasers Gesicht, die zusammengerollt vor der Feuermulde lag. Sie atmete den Zedernduft tief ein und streckte sich. Der lange Lauf hatte ihr mehr abverlangt, als ihr bewußt geworden war. In ihren Muskeln spürte sie einen stechenden Schmerz.
    Sie wälzte sich auf dem Rücken und blinzelte zu den rußbefleckten Wänden; das Häuschen wirkte an diesem Morgen wahrlich trostlos. Die Körbe in der Ecke sahen noch ein wenig mehr so aus, als wollten sie gleich umfallen. Sie lehnten derart schief an der Wand, daß der kleinste Windzug genügen würde. Der Türvorhang flatterte in der Brise, und sie erblickte Vögel, die auf den silbrig bereiften Salbeizweigen hockten.
    Sie rieb sich die Augen. Alpträume hatten sie gemartert, und in allen war der große weißgesichtige Bär aufgetaucht, der versucht hatte, ihr zu helfen, sie beratend und mit der Nase anstoßend, wenn sie den falschen Weg einschlug, auf dem kreischende Geister sie umringten …
    Maisfaser stützte sich auf die Ellbogen, und aus den Augenwinkeln gewahrte sie eine Bewegung. Langsam drehte sie sich um. Eine winzige braun-weiße Feldmaus versteckte sich zwischen den Töpfen neben der Tür. Das kleine Geschöpf beobachtete sie mit glänzenden Augen, fluchtbereit, aber doch viel zu interessiert an dem Häufchen Maisbrösel neben dem größten Topf. Die Schnurrhaare zitterten beim Essen. Merkwürdig, daß ihr die Brösel nicht am Abend aufgefallen waren; Sängerling mußte sie liegengelassen haben.
    Er war in seine graue Decke gekuschelt und schnarchte leise. Nur sein Scheitel war zu sehen. Das einfallende Licht zauberte kleine rosige Funken auf seine verstrubbelten schwarzen Haare. In der Nacht hatte er sich offenbar überhaupt nicht bewegt. Ohne Zweifel bedurfte sein Körper all seiner

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