Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
jagen müssen. Aber das ist immer eine unsichere Sache, und ich war auch viel zu müde dazu.«
»Ich habe gern geteilt. Wenn ich einmal ein großer Sänger bin, dann werde ich mit den Leuten sehr viel mehr als Essen teilen können.«
Er klang so glücklich und war so begierig, seinem Clan zu helfen. Sie betrachtete seine glänzenden braunen Augen. »Was wirst du als erstes tun?«
»Hm. Also entweder Kranke heilen oder ein paar Hexen töten. Vielleicht beides.« Er grinste. Sie lächelte. Sie genoß diese Augenblicke der Freude. Sängerling schien sie zu verstehen, denn er blickte sie an, und in seinen Augen war sein ganzes Herz.
Maisfaser formte den Teig zu schönen purpurnen Bällchen, die sie nacheinander ins kochende Wasser gab. Lavendelfarbener Schaum stieg hoch und schwappte über den Topf, und die Schaumbläschen, die auf die brennenden Scheite fielen, zischten laut. Dampf schoß zum Dach hinauf.
Sie lehnte sich zurück und wartete darauf, daß die Klöße fertig wurden. Die ersten Abendleute glitzerten durch das Rauchloch. »Es muß schwer für dich gewesen sein, als dein Vater starb, bevor du einen Sommer gesehen hast. Wie ist es geschehen?«
»Nun… ich…« Er war sich anscheinend nicht sicher. »Meine Mutter hat erzählt, daß er sich ein Bein gebrochen hat, und das hat sich infiziert. Es hat drei Monde lang gedauert, bis er gestorben ist, hat sie gesagt. Sie hat ihn sehr geliebt und wollte nicht mehr heiraten. Danach hatten wir nur noch uns beide.« Er schaute düster in seinen rötlichen Tee. »Alles, was ich bin, verdanke ich meiner Mutter Schneeberg.«
Maisfaser nippte an ihrem Feigentee. Er hatte einen angenehm scharfen Beigeschmack. »Du glaubst deiner Mutter nicht?«
Er hob den Kopf und runzelte die Stirn. »Merkt man das?«
»Du hast so unbehaglich ausgesehen, als du die Geschichte erzählt hast.«
Sängerling spielte mit einem Stein auf dem Boden. »Es ist nicht wirklich wichtig. Wenn sie mir nicht die Wahrheit sagt, dann nur, weil die Wahrheit zu schmerzhaft für sie ist. Ich liebe sie trotzdem von ganzem Herzen.«
Geheimnisse. Verschwiegen alle Eltern etwas vor ihren Kindern?
Maisfaser seufzte. »Sie ist sicher sehr stolz darauf, daß du ein Sänger wirst.«
»O ja, das ist sie.« Er nippte an seinem Tee, und sein Magen knurrte so laut, daß sie beide auf seinen sonnenverbrannten Bauch starrten.
Ein Nest winziger schwarzer Haare zeigte sich in seinem Nabel; es glänzte im Feuerschein. »Mußt du dich übergeben?« fragte Maisfaser.
Beunruhigt kniff er ein Auge zu. »Ich hoffe, nicht.«
»Trink langsam, Sängerling. Du mußt das unten behalten.«
Er rülpste, sah erschreckt drein und sagte zögernd: »Ich glaube, du hast recht.«
Mit dem flachen Wacholderstab holte Maisfaser einen Kloß aus dem Wasser; er war zu einem lockeren bläulichen Ball gediehen. Sie legte ihn in ihre Schale und schnitt ihn durch. »Sie sind gar.« Sängerling stützte sich mit einer Hand ab und setzte sich aufrecht, als Maisfaser die dampfenden Klöße in ihre Schalen verteilte. Sie stellte seine Schale auf den Boden neben ihn und gab ihm einen Hornlöffel.
Sie viertelte ihren ersten Kloß, blies darauf und nahm dann ein Stück in den Mund. Die Süße der Feigen ergänzte das pikante Aroma des blauen Maismehls. Sie aß, als hätte sie seit Tagen gefastet, und kaute und schluckte, so schnell sie konnte. Während ihr Magen voller wurde, ließ ihre Verzweiflung nach. Die Spannung in ihren Schultern wich. Doch ihre Müdigkeit wurde stärker und lastete auf ihren Gliedern. Sie gähnte, setzte die Schale beiseite, trank ihren Tee und beobachtete Sängerling. Er nahm den glänzenden Kiesel aus dem Mund und hielt ihn in der Hand, während er mit dem Löffel die Klöße zerkleinerte. Er goß etwas Tee in seine Schale, so daß sich das Mahl in eine Suppe verwandelte. Sehr vorsichtig aß er.
»Geht es dir besser?« fragte Maisfaser.
»Ich fühle mich nicht krank, mir ist eher kalt.« Er bekam eine Gänsehaut.
Maisfaser stand auf, nahm die graue Decke vom Boden und legte sie behutsam über Sängerlings blasenbedeckte Schultern. Verbrannte Haut war immer anfälliger für Kälte. »Tut das weh?« »Nein. Danke. Das tut gut. Du bist sehr freundlich.«
»Du warst freundlich zu mir«, sagte sie nüchtern, »dann kann ich auch freundlich zu dir sein.« Seine Augen verengten sich; er schien die Aura von Maisfaser zu prüfen; sein Blick zog eine Linie um ihre Haare und Schultern herum. »Ich glaube, du wärst sowieso
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