Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
und Maisfaser zuckte zusammen, als sie an den Sand auf seinem verbrannten Fleisch dachte, aber den schien er gar nicht zu bemerken. Das lange Haar fiel ihm über Brust und Bauch. Man konnte nicht sagen, daß er gut aussah; tatsächlich glich er eher einem Raubvogel. Aber da war etwas in seinen runden Taubenaugen, was sie rührte.
»Wo kommst du her, Seide?«
»Aus d-dem Schildkrötendorf.« Ihre Stimme bebte, aber sie gab sich keine Mühe, das zu ändern. »Meine Familie … sie wurde umgebracht, von Räubern, Turmbauern, und ich…« Sie spürte, daß sie gleich anfangen würde zu schluchzen, und stocherte wieder im Feuer. Funken stoben und blitzten zum Rauchloch hinauf.
Sängerlings Augen verengten sich. »Das tut mir leid. Auch ich habe meinen Vater verloren. Aber da war ich nicht mal einen Sommer alt. Ich kann mich nicht an ihn erinnern. Wann war denn der Überfall auf dein Dorf?«
»Vor einem halben Mond«, antwortete sie, und hinsichtlich Schildkrötendorf stimmte das auch. »Heilige Thlatsinas! Und seit der Zeit bist du allein gewesen?«
Sie stellte die Tassen, Hornlöffel, Schalen und den Topf mit Maismehl in einer Reihe vor sich hin. »Ja.«
»Aber du mußt noch Verwandte haben. In einem anderen Dorf?«
»Ich - ich glaube … in Krallenstadt.«
Sie starrte auf die Flammen, die gegen den Kesselboden züngelten, und fragte sich, was Onkel Hirschvogel und Großvater Kalebasse heute nacht wohl machten. Wußten sie schon von der Zerstörung von Lanzenblattdorf ? Suchten sie schon in den schwelenden Ruinen nach ihrer Familie? Bevor sie es unterdrücken konnte, fluteten alle Ängste und Sorgen an die Oberfläche, und sie schluchzte laut. Sie hatte Schmerzen in der Brust. Sie preßte sich eine Hand auf den Mund und bemühte sich um Fassung, bis sie endlich einen tiefen Atemzug tun konnte.
Sängerling sagte sanft: »Kann ich irgend etwas für dich tun, Seide?«
Sie schüttelte den Kopf. Rasch stand sie auf, eilte zur Tür und holte den kleinen Mahlstein und den Handstein zum Feuer.
Sängerling sah zu, wie sie einige Kaktusfeigen aus dem Gebinde vom Dach löste. »Vor ein paar Tagen hab ich versucht, ein Mistkäfer zu sein.«
»Was?« Sie schaute auf ihn herab.
Seine Augen leuchteten. »Ein Mistkäfer. Ich habe mich sehr angestrengt, einer zu sein, aber es ging nicht.« Feuerschein tanzte über sein schmales Gesicht und hob die gekrümmte Linie seiner Hakennase hervor. »Vielleicht war mir der Gedanke zuwider, weil die Menschen die meiste Zeit in Mist und Dung leben.«
Maisfaser kniete sich hin, um die Früchte auf den Mahlstein zu legen. »Für Käfer ist es vielleicht nicht so schlimm, die haben Dung offenbar gern.« Sie wischte sich mit dem braunen Ärmel über die nassen Wangen.
»Nun ja, vielleicht haben sie keine andere Wahl.«
Maisfaser bedachte das. Sie hatte auch keine andere Wahl gehabt, sowenig wie irgendeiner in Lanzenblattdorf, und am wenigsten Vogelkind.
Sie sah in Sängerlings leuchtende Augen, als sie den Handstein aufnahm und die Früchte auf dem Mahlstein zerstampfte. »Ich glaube, du wirst ein Sänger - und sicher nicht nur ein Sängerling.« Er grinste plötzlich. »Das will ich auch werden, das wünsche ich mir sehr, denn dann kann ich meinem Volk helfen.«
»Wie heißt dein Dorf?«
»Anemonendorf. Ich bin vom Coyote-Clan.«
Maisfaser zerdrückte die Feigen zu einem feinen roten Brei und spähte dann in den Kochtopf. Kleine Schaumbläschen zischten auf der Oberfläche. Damit die Klöße wirklich gut wurden, mußte das Wasser sprudelnd kochen, aber an diesem Abend war ihr das nicht so wichtig. Sie schüttete zwei Tassen blaues Maismehl in ihre Schale und fügte zwei Tassen heißen Wassers hinzu. Mit einem flachen Wacholderstock fuhr sie am Rand der Feuermulde entlang, bis sie genug weiße Asche zusammen hatte, die sie dem Maismehl beimischte. Zum Schluß gab sie die Hälfte des Feigenbreis dazu und rührte. Ein weicher purpurfarbener Teig entstand.
»Fast fertig«, sagte sie. »Aber zuerst machen wir Tee. Denn wir haben kein heißes Wasser mehr übrig, wenn ich die Klöße hineinwerfe.«
Sie füllte ihre beiden Tassen mit heißem Wasser und ließ den Rest des Feigenbreis hineingleiten. Der Tee begann zu ziehen und roch köstlich. Eine Tasse gab sie Sängerling.
Er lächelte dankbar. »Danke. Ich komme mir immer noch vor wie eine Wolke im Sturm.« »Seit gestern habe ich nichts mehr zu essen gehabt. Hättest du nicht mit mir teilen wollen, dann hätte ich heute abend noch
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