Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
freundlich zu mir. Du hast einen hellen blauen Schein um dich herum. Einen heilenden Schein.« Er nahm sich noch einen Löffel seiner Kloßsuppe.
Maisfaser setzte sich, nahm ihre Tasse und betrachtete ihn über den Tassenrand hinweg. Ihre Mutter hatte ihr von Sängern erzählt, die die Farben der Seele sahen, aber sie hatte noch nie einen getroffen. »Hast du das immer schon gekonnt?«
»Hmm?« fragte er beunruhigt. »Was gekonnt?«
»Die Farben der Seele sehen.«
»O nein, ich doch nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Bis heute. Deine Seele ist die erste, die ich je gesehen habe, das heißt, außer meiner. Und meine habe ich erst gesehen, kurz bevor ich deine sah.« Sie senkte ihre Tasse in den Schoß. »Welche Farbe hat deine Seele?«
Er lächelte. »Gelb. Ein leuchtendes, grelles Gelb. Deswegen habe ich vorhin lachen müssen.« »Warum?«
»Weil sie gelb ist.« Er beugte sich mit großen Augen zu ihr vor. »Verstehst du, Seide? Ich war die ganze Zeit Sonnenlicht. Natürlich konnte ich nicht in der Sonne stehen, das geht nicht, wenn ich das Sonnenlicht bin.«
Maisfaser zog die Brauen zusammen. »Also wenn du Sonnenlicht bist, was bin ich dann?« »Du«, sagte er und sah sie mit solcher Liebe an, daß sie etwas zurückwich, »du bist der Himmel in der Morgendämmerung.«
»Du meinst, meine Seele kommt von dort? Daß sie ein Teil des Morgenhimmels ist, wie ein abgebrochenes Stück davon oder so?«
Sängerling biß sich auf die Lippen. »Ich bin noch kein richtiger Sänger, daher weiß ich das noch nicht so genau. Ich kann dir nur sagen, wenn du innerhalb deiner Seele lebst, dann kommt einem das nicht vor wie ein Stück Sonnenlicht oder ein Teil vom Morgenhimmel, sondern …« Er hielt inne, als wollte er sich konzentrieren, die richtigen Worte zu finden. »Also, ich fühlte mich, als sei ich Sonnenlicht, das über alles streift, überall gleichzeitig scheint.«
Maisfaser lächelte. Er senkte den Kopf verlegen, das dunkle Haar hing um ihn herum und rahmte sein Falkengesicht ein.
Er preßte die Lippen zusammen. »Es tut mir leid. Klang das stolz? Düne sagt, der Stolz wäre mein Problem. Ich will gar nicht eitel sein, ich -«
»Du hast überhaupt nicht stolz geklungen. Tatsächlich klang es eher« - sie machte eine unbestimmte Handbewegung - »eher unschuldig. Ich hatte einmal einen Freund, einen kleinen Jungen …« Tränen hingen an ihren Wimpern. »Er hieß Löwenjunge. Fünf Sommer hatte er gesehen, und er konnte lachen, einfach vor Glück, so sehr, daß es mir im Innern weh tat. Deine Stimme klang fast wie seine, und ich empfand denselben Schmerz.«
Sängerling lächelte und aß weiter Suppe; langsam lud er sie in den Mund und wartete nach jedem Löffel, was geschehen würde. Schließlich sagte er: »Du bist also auf dem Weg nach Krallenstadt. Um deine Verwandten zu finden?«
»Ich habe sonst nichts mehr. Ich wüßte nicht, wohin ich sonst gehen sollte.«
»Da ist Düne jetzt. Wenn du dort bist, richte ihm bitte aus, daß es mir gutgeht.«
»Das werde ich tun. Ich werde ihn finden.«
»Du kannst ihn gar nicht verfehlen. Er ist etwa so groß« - er deutete die Größe mit der Hand an - »ohne Zähne und schlecht gelaunt. Wenn du ihn siehst, wird er sicher gerade auf jemandem herumhacken.«
Der Abend senkte sich über den Canyon, und die wachsende Kälte setzte ihr zu. Sie trank ihren Tee aus, schnallte die Decke von ihrem Bündel und wickelte sich darin ein. Wärme durchdrang sie, und ihre Lider waren plötzlich so schwer wie Stein. Feuerschein flatterte über die Wände wie ein Schwarm goldener Schmetterlinge. Sie hatte nicht mehr geschlafen … seit der vorletzten Nacht. Sie streckte sich neben dem Feuer aus, den Kopf auf ihrem Bündel. Die kostbare türkisbesetzte Decke darin diente ihrem Ohr als Kissen. Ein schwaches Gewisper drang aus dem Bündel; Maisfaser bemühte sich zu verstehen, was die Decke ihr sagen wollte, aber es gelang ihr nicht. Sie fragte sich, ob Sängerling es konnte, und schaute zu ihm hin.
Doch es schien nicht so. Er aß gerade den Rest seiner Kloßsuppe und legte sich eine Armlänge entfernt nieder. Bevor er seine Decke über sich zog, steckte er sich den Kiesel wieder in den Mund. »Hast du nicht Angst, du könntest ihn verschlucken?«
Er bedachte das sorgsam. »Nein. Jedenfalls habe ich keine Angst, daß der Stein mir weh tut. Was mir Sorge macht, ist, daß ich dem Stein versehentlich weh tun könnte. Das würde ich nicht wollen. Der Stein ist sehr gut zu mir
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