Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
macht.«
Sängerlings Gesicht verdüsterte sich. »Das stimmt.« Er schaute beiseite.
Sie verstand die Andeutung.
Der nächste Kaktus war halb so groß wie Maisfaser und hatte Blattpolster, die so lang wie ihr Unterarm waren und zweimal so breit. Diesmal bekam sie keine Antwort auf ihr Gebet, sie merkte nur eine schwache feindselige Schwingung. Sie ging weiter zu einem anderen Kaktus, wo sie vier Blattpolster abschnitt und sie alle auf ihrem Pfeil aufspießte. »Zehn Blattpolster werden wohl genügen. Wenn nicht, schneide ich später noch ein paar ab.«
»Vielen Dank.«
Eine Brise wehte durch das Gestrüpp und über die Wasserfläche, die leuchtete und flimmerte. Sängerling runzelte die Stirn. »Seide? Hat deine Mutter nie davon gesprochen, daß man sich nach dem Fasten so leer fühlt?«
»Leer? Wovon denn leer?«
»Von allem. Entleert von Gedanken und Gefühlen. Ich fühle mich sogar entleert von mir selbst. Als wäre ich gar nicht richtig da.«
Maisfaser band sich wieder das Messer am Gürtel fest und bedachte die Frage. Ein Blauhäher trillerte über ihr, und sie sah zu ihm hinauf. Der blaue Vogel schwebte auf der warmen Luftströmung über dem Canyon-Rand, die flatternden Flügel abgehoben vor dem gleißenden Gold des Morgens. »In meinem zehnten Sommer wollte meine Mutter eine sehr alte Frau heilen. Es dauerte einen halben Mond. Ich weiß noch, daß meine Mutter fastete und sang und nicht mehr als ein paar Zeithände schlief. Aber die Frau starb trotzdem.« Maisfaser sah das abgehärmte Gesicht ihrer Mutter vor sich und hörte noch, wie sie mit Tränen in den Augen den lange dauernden Todeskampf der Frau beschrieb. »Als Mutter nach Hause kam, sagte sie, ihre Seele sei in die Himmelswelten geflohen, sie schwebte im Nichts, allein, in der Erwartung, daß die Welt sich ändere.« Sie machte eine unbestimmte Handbewegung. »Ich weiß nicht, ob sie damit sagen wollte, daß sie sich leer fühlte, aber es hört sich so ähnlich an, wie du dich fühlst.«
Sängerling machte die Augen zu. Eine Weile sagte er nichts. »Wie lange hat es gedauert, bis ihre Seele in den Körper zurückkehrte?« »Immerhin vier oder fünf Tage, glaube ich.«
Sängerling tauchte eine Hand ins Wasser ein und strich sie über sein sonnenverbranntes Gesicht. Er seufzte, als wäre er erleichtert. »Wenn meine zurückkommt, bin ich nicht sicher, ob ich dann weiß, wer ich bin, denn jetzt weiß ich's auch nicht. Ich bin… irgendwie anders geworden.« Maisfaser lehnte den Pfeil an einen Fels, nahm den Topf und säuberte ihn. Als sie ihn erneut mit Wasser füllte, überlegte sie, wieviel sie von sich selbst verloren hatte. Noch vor ein paar Tagen hatte ein Kind in ihrem Innern gespielt; jetzt war da eine verängstigte junge Frau, atemlos und verwirrt. »Ich verstehe dich, Sängerling«, entgegnete sie. Sie hob den Topf an den Riemen hoch und nahm den Pfeil in die andere Hand.
Sängerling sah zu ihr auf. »Soll ich aufstehen?« »Wie du willst. Ich geh jetzt erst einmal zurück und schäle die Kaktuskissen.«
»Aber je eher wir die Salbe auf die verbrannte Haut auftragen, um so eher heilt sie.« Er kam hoch und stand tropfend im Becken. Das Wasser perlte auf seiner kalten, blasigen Haut und glättete seine langen nassen Haare über der Brust. »Hier!« Er streckte die Hand aus. »Laß mich den Topf nehmen. Du hast deinen Bogen und die Kaktuspolster zu tragen.«
Maisfaser gab ihm den Topf.
Steifbeinig ging er den Pfad hinauf und hielt den Topf seitlich von sich ab. Am schwarzen Opferstein angekommen, beugte sich Sängerling vorsichtig vor und strich mit den Fingern über die rauhe Oberfläche. »Tut mir leid«, flüsterte er. »Ich wollte dir nicht weh tun.« Er hob die roten Maiskörner einzeln auf, die er vorher heruntergekippt hatte, und legte sie gewissenhaft in die Mulde zurück. Maisfaser fragte: »Für wen sind die Opfergaben bestimmt? Für den Felsblock selbst oder für etwas anderes?«
»Sie sind für die Stille bestimmt«, sagte und tätschelte den Fels.
Maisfaser runzelte die Stirn. Eine Opfergabe konnte eine Bitte um Hilfe bedeuten oder ein Geschenk aus Dankbarkeit. Gelegentlich drückte sie einfach symbolisch die Liebe des Opfernden für den Geist aus. Ihre Mutter hatte täglich den Geistern der ziehenden Wolkenleute eine Gabe geopfert. Aber der Stille?
Sie folgte Sängerling den Pfad hinauf.
Am weißen Häuschen angekommen, hielt sie ihm den Türvorhang auf. Er grunzte leise, als er sich tief duckte, um einzutreten;
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