Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
unaufhörlich, um die Welt pulsierend am Leben zu erhalten? Die blaugrauen Gewitterwolken, die sich den ganzen Tag lang am Himmel zusammengezogen hatten, waren zu Himmelsruinen zerfallen. Fetzen ihrer früheren Herrlichkeit trieben nach Norden ab, an den Rändern mattblau getönt.
Schwarzer Tafelberg sah hinab auf das bekümmerte Gesicht von Schneeberg. »Er hat seinen Vater gesehen«, sagte er.
Ihr Gesicht entspannte sich erstaunt. »Seinen … seinen wirklichen Vater?«
»Ja. Sein Körper murmelte, erzählte, was seine Seele gesehen hat, als sie durch die Welten zog. Er nannte den Mann ›Vater‹, aber ich weiß nicht, ob er erkennt, wer der Mann in dieser Welt war.« »Er kann es nicht wissen, Schwarzer Tafelberg. Ich habe ihm niemals etwas verraten. Er hat oft danach gefragt, aber -«
»Schneeberg«, unterbrach sie Schwarzer Tafelberg sanft, »du mußt das verstehen. Alles, was vergeht, kommt wieder. Alles, was stirbt, wird wiedergeboren. Alles, was verborgen ist, wird enthüllt. Wir Menschen leben in einem ungeheuren, kahlen Universum, das wir kaum verstehen.« Das Leben war »in Bewegung«, wie Schwarzer Tafelberg wußte, so unbeständig und launisch wie der Windjunge, frohlockend, schlafend, nie wirklich in einem Ruhezustand, nie verläßlich und immer unvollendet. Samen und Frucht, Regen und Dürre, Glauben und Wirklichkeit - das alles bewegte sich in einem gigantischen Kreis, in einem ewigen Prozeß der Verwandlung.
Schneebergs Blick heftete sich an ihren Sohn. Kreuzdorn hatte nun sein zwei Handbreit großes Stück Pappelholz fertig ausgehöhlt und angefangen, das »Herz« der Trommel zu bauen. Er zog ein Stück Sehne durch die Mitte, band es fest und befestigte die Truthahn-Feder an der straffgespannten Sehne. Schwarzer Tafelberg nickte, als der Jüngling sich vorbeugte und mit seiner tiefsten Stimme in die Trommel hineinbrummte, um ihr einen dröhnenden Baß-Ton zu vermitteln.
Ohne die Augen von ihrem Sohn abzuwenden, fragte Schneeberg: »Was ist ihm sonst noch in der Ruß-Welt zugestoßen?«
»Sein Vater hat ihn ein Lied gelehrt. Sie haben es zusammen gesungen, und während sie sangen, hat die Erde gebebt, und Feuerflüsse haben die Erde verzehrt. Um zu fliehen, kletterte Kreuzdorn in den Himmel, und die Wolken dienten ihm als Trittsteine.«
»Das verstehe ich nicht.«
Schwarzer Tafelberg zuckte die Achseln. »Die Vision ist dir nicht gegeben.«
»Hat Kreuzdorn es verstanden?«
Er sah zu, wie Kreuzdorn mit zwei Hirschlederflicken Ober- und Unterteil abdeckte und sie dann zusammennähte, indem er Lederstreifen durch Löcher zog, die er an den Rändern eingestanzt hatte. »Nein«, sagte Schwarzer Tafelberg und atmete dabei müde aus. »Aber er wird es verstehen. Eines Tages.«
»Wirst du ihn lehren?«
»Das kann ich nicht. Ich habe Kreuzdorn versprochen, daß der heilige Heimatlose ihn lehren wird.« Schneeberg machte den Mund auf und hob eine Hand zum Herzen. Mit großen Augen fragte sie: »Düne? Aber Düne wollte ihn doch nie mehr sehen? Das hast du mir doch gesagt!« Schwarzer Tafelberg senkte den Blick und suchte nach Worten. »Der Große Kreis hat sich verschoben. Es gibt viele Dinge, die Kreuzdorn wissen muß. Vielleicht sogar die Identität seines richtigen Vaters.«
»Sollte ich-«
»Nein.« Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, um seine Worte zu unterstreichen. »Diese Offenbarung birgt eine große Gefahr. Wenn er es wissen soll, wird Düne es ihm sagen. Am Ende hat Düne das Recht zu entscheiden, ob und wann man es ihm sagen soll.«
Kreuzdorn schlug probeweise mit dem Zeigefinger auf die Trommel, um die Resonanz zu prüfen. Schwarzer Tafelberg schaute zu ihm hin, und das Herz wurde ihm schwer. Der Jüngling lächelte jetzt. Er schaute erwartungsvoll auf, um zu sehen, ob jemand im Dorf den wunderbaren Ton gehört hatte. Schwarzer Tafelberg nickte ihm beifällig zu, und darauf lächelte Kreuzdorn noch mehr. Wieder schlug er leicht auf die Trommel.
»Vertraue mir, Schneeberg. Düne wird Kreuzdorn lehren.«
Schneeberg schien darüber nachzudenken. »Heißt das, daß mein Sohn ein großer Sänger sein wird?« »Ich kann nur sagen, daß er gebraucht wird.« Er blickte Schneeberg an. »Wer von uns wagt denn, mehr zu verlangen?«
3. K APITEL
Als die Flammen des Sonnenuntergangs langsam erloschen, nahmen die ziehenden Wolken eine düstere graue Farbe an und befleckten den Himmel wie mit fettigem Rauch. Die Schatten des Canyons wurden immer länger, bis sie mit der Nacht
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