Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
und seufzte. »Krähenbart hätte ihn bitter nötig, und die Götter wissen es.« Nordlicht schaute auf und warf Düne einen freundlichen Blick zu. »Das hat er allerdings.« »Ich habe gehört«, wagte Sängerling sich vorsichtig einzumischen, »er hätte in seinem Leben einige unerfreuliche Dinge getan.«
Dünes altes Gesicht gewann sein normales Faltenmuster zurück, als er gedankenvoll antwortete. »Viele. Aber das ist nun vorbei. Wir haben seine Seele geläutert und seine Augen freigemacht. Er kann seine Fehler nun sehen. Die Strafen, die er sich selbst zuteilt, sind viel schlimmer als die, zu denen wir Menschen ihn verurteilen könnten.«
Nordlicht schaute Sängerling an. »Krähenbart wird jetzt in alle Ewigkeit versuchen, das Unrecht, das er anderen angetan hat, wiedergutzumachen. Ich glaube, er wird einen guten Regengott abgeben. Er wird sich sicher um diejenigen kümmern wollen, die er verletzt hat.«
Sängerlings Blick glitt zur zugenähten Decke auf der Fußtrommel vor Nordlicht. »Und Wolkentanz? Was wird sie machen ?«
Nordlicht legte eine Hand leicht auf die Decke. »Sie hatte so gut wie nichts zu bereuen. Jeder, fast jeder, liebte sie. Sie spielte mit den Kindern, sorgte sich um die Kranken, half den Alten und nährte die Hungrigen. Ich kenne kaum jemanden, der andern soviel gegeben hat wie Wolkentanz.« »Und der soviel gelitten hat«, sagte Düne mit zugekniffenen Augen. »Für eine Frau ihres Alters hatte sie zu viele Schicksalsschläge zu erdulden. Ich kann nicht verstehen, warum jemand sie ermorden wollte.«
»Sie ist ermordet worden?« fragte Sängerling erschreckt.
Nordlichts schönes Gesicht wurde starr. »Ja. Gleich hinter den Mauern von Krallenstadt, von einem Unbekannten, kurz nach dem Tod ihres Vaters.«
Sängerling war mit dem weißen Mehl fertig und schöpfte eine Handvoll rotes Mehl heraus, das er nun in die Leiter einrieb. In dem matten Feuerschein sahen die beiden heiligen Männer zutiefst traurig aus, als ob sie Wolkentanz vermißten. Aber keiner von beiden schien Krähenbart zu vermissen. Das war interessant. Sängerling betrachtete seine Begleiter aus den Augenwinkeln.
Anemonendorf bekam seine Neuigkeiten von Händlern und Reisenden, was im allgemeinen bedeutete, daß sie über die dramatischsten Geschehnisse unterrichtet wurden. Sängerling wußte, daß Wolkentanz die Tochter von Nachtsonne und Krähenbart gewesen war, aber über sie hatte es kaum Geschichten gegeben. Krähenbart war hingegen immer im Gespräch gewesen, und alle Berichte über ihn hatten die Leute erschreckt. Sängerling hatte bei den schrecklichen Geschichten allerdings nie richtig zugehört, denn seine Mutter hatte ihm einmal gesagt, daß Leute in hohen Stellungen, so wie Häuptling Krähenbart, für alles verantwortlich gemacht würden, was irgendwo vorgekommen war, gleichgültig, ob sie schuldig waren oder nicht. Sein Leben lang hatte Schneeberg Sängerling gelehrt, den Häuptling zu achten und zu lieben wegen der guten Taten, die er für das Volk des Rechten Wegs vollbracht hatte. »Ich erinnere mich«, sagte Sängerling mit Blick auf Düne, dann auf Nordlicht, »als Anemonendorf einmal mitten im Winter keine Nahrungsmittel mehr hatte, da haben Krähenbart und Nachtsonne die Lager hier in Krallenstadt geöffnet und uns Mais, Bohnen und Kürbisse geschickt. Damals hatte ich erst fünf Sommer gesehen, aber ich hatte Hunger. Noch heute ist mein Herz von tiefer Dankbarkeit erfüllt.«
Nordlicht lächelte. »Ja, in dieser Beziehung haben sie gut zusammen regiert.«
»Ein Mann kann ein guter Herrscher sein - und zugleich ein niederträchtiger Mensch«, sagte Düne, »und Krähenbart war einer, wie die Thlatsinas wissen.«
Sängerling schaute ihn ärgerlich an. »Das ist typisch für dich, Düne, daß du einen erhabenen Augenblick ehrfürchtiger Erinnerung kaputtmachen mußt.«
»Ich wollte nur nicht, daß du einen falschen Eindruck gewinnst. Wenn du Krähenbart sehen willst, dann sieh ihn, wie er wirklich war.
Fast all seine guten Taten gingen auf den Rat von Nachtsonne zurück. Vergiß nicht, die Ehrwürdige Mutter entscheidet darüber, wer Nahrungsmittel bekommt und wann. Die Gesegnete Sonne entscheidet lediglich darüber, wie diese Entscheidungen am besten verwirklicht werden - wie viele Männer auszusenden sind, um die Lebensmittel zu schützen, und welche Straßen sie benutzen sollen. Aber all die scheußlichen Dinge, die brutalen Überfälle, die Plünderung der Dörfer und das Abschlachten der
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