Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
ging grinsend zu ihm und vermied dabei die Stacheln des Feigenkaktus. Sie kniete sich neben ihn. »Was machst du? Spionierst du hinter unseren Eltern her?«
Ein Hauch von Staub lag auf seinen breiten Backenknochen und schwarzen Brauen. Sie sah den Herzschlag in seinen Schläfen. »Hör mal zu«, flüsterte er. »Mutter und Vater haben Streit.« Durch das Rückfenster sah sie die beiden, sie standen sich gegenüber. Ihre Mutter hatte eine schwarzgraue Decke lose auf der Schulter, ihr Vater trug ein hellblaues Hemd; er hatte die Arme um sich geschlungen, als wollte er sich selbst umarmen.
Die Mutter sagte: »Palmlilie, wir haben uns jetzt zwei Tage lang gestritten. Genug jetzt. Wenn du nicht mitkommst, nehme ich Maisfaser und Vogelkind und gehe mit ihnen weg.«
»Distel, ich bitte dich. Ich bin der Kriegshäuptling vom Lanzenblattdorf. Ich trage die Verantwortung. Die Turmbauer sind auf Raubzug. Wie kann ich denn jetzt hier weggehen?«
Maisfaser starrte atemlos auf das Haus. Der rote Verputz schien nun ockerfarbig in der hellen Sonne. Unten spielten Kinder auf der Plaza, rangen miteinander und warfen Stöcke für ihre bellenden Hunde. Zweigeschossige Wohnbauten faßten das große Viereck der Plaza ein. Frauen saßen in der Sonne auf der Westseite, mahlten Mais und lachten. Melodische Männerstimmen drangen aus der Kiva in der Mitte der Plaza.
»Distel«, bat der Vater flehentlich. »Tu mir das nicht an. Ich bitte dich. Ich liebe dich und -« »In diesem Fall würdest du uns schützen.«
Maisfaser fragte erschreckt: »Vogelkind, warum will uns Mutter fortbringen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß noch nicht genau. Pst!«
»Distel«, sagte der Vater. »Bitte. Ich weiß, du hast große Angst, aber ich glaube nicht, daß wir in Gefahr sind. Selbst wenn Nachtsonne herausbekommt -«
»Vor Nachtsonne habe ich keine Angst. Sie war nie so böse, wie Nordlicht behauptete. Ich hielt sie eher für eine gute Frau. Freundlich zu jedermann «
»Na gut.« Palmlilie biß die Zähne zusammen. Etwas ruhiger fuhr er fort: »Ich glaube es zwar nicht, aber angenommen, daß Krähenbart nicht der Vater ist, sondern Eisenholz. Wie könnten seine Feinde herausbekommen, wo sein Kind ist? Eisenholz hat niemandem etwas erzählt, außer vielleicht Nordlicht. Aber ich kann nicht glauben, daß Nordlicht Eisenholz verraten würde.«
»Warum nicht?« fragte Distel, den Tränen nahe. Ihre Lippen zitterten.
»Sie waren ihr Leben lang Freunde. Außerdem -«
»Spielt das denn noch eine Rolle, wenn -«
»Im übrigen«, unterbrach sie der Vater gebieterisch, »sind wir über fünfzehn Sommer lang sicher gewesen, Distel. Wieso sollte denn nach all dieser Zeit plötzlich jemand Eisenholz verraten wollen? Was hätte er davon?«
Mit erstickter Stimme antwortete die Mutter: »Ich weiß nicht, aber ich habe Todesangst. Wir müssen etwas unternehmen. Bitte hilf mir, wir müssen uns etwas ausdenken, damit unser Sohn und unsere Tochter in Sicherheit sind.«
Ein großer Schrecken schnürte Maisfasers Herz ein. Mutter will uns fortbringen, weil sie denkt, wir sind in Gefahr… Eisenholz ist der Vater… von wem?
Maisfaser flüsterte: »Vogelkind, was für ein Kind ist gemeint? Wer ist das Kind von Eisenholz?« Vogelkind schloß die Augen. »Ich glaube, einer von uns ist gemeint.«
Sie brauchte eine Weile, bis sie das ganz begriff. »Einer von uns?… Von uns beiden?« »Vielleicht«, sagte der Vater sanft, »sollten wir Maisfaser und Vogelkind trennen.« Die Mutter blieb zunächst reglos stehen. Dann nickte sie langsam. »Wenn du das für richtig hältst.« »Maisfaser könnte zu meinem Bruder Hirschvogel im Zweihörnerdorf ziehen und dort wohnen. Es ist nicht weit. Ein Halbtagesmarsch. Ich fürchte sogar, es macht ihr Spaß. Sie hat Hirschvogel immer schon gemocht.«
Maisfaser mußte heftig schlucken, ihr Herz schlug wild.
Vogelkind sah sie zusammenzucken; er legte ihr einen Arm um die Schulter und hielt sie fest. »Warte. Wir wissen noch nicht alles.«
»O Palmlilie«, sagte die Mutter weinend. »Maisfaser wird mir fehlen.«
Palmlilie zog die Mutter an sich und küßte sie zärtlich aufs Haar. »Es wäre ja nur für kurze Zeit. Wenn Krähenbart lebt, sind wir noch in Sicherheit. Wenn er stirbt -«
Die Mutter schaute auf. »Wenn er stirbt, können wir Maisfaser einen Mond lang dalassen … bloß um abzuwarten.«
»Ja. Wer immer Krähenbarts Kind Schaden zufügen wollte, würde es sofort tun, wenn überhaupt. Und Eisenholz' Kind -«
»Ja,
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