Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
ich verstehe«, fügte ihre Mutter eifrig hinzu. »Und nach einem Monat können wir sie abholen und nach Hause bringen.«
»Ja.«
»Vogelkind«, sagte Maisfaser leise, »die meinen mich. Ich bin's, den sie -«
»Und was ist mit Vogelkind?« fragte ihre Mutter. »Wohin schicken wir unseren Sohn?« Maisfaser sah, wie Vogelkind die Zähne zusammenbiß.
Palmlilie sagte: »Ich glaube, es ist unsere Pflicht, dauernd in seiner Nähe zu sein. Wir -« »Nein, er ist jetzt alt genug«, wandte ihre Mutter ein. »Sobald er seinen ersten feindlichen Krieger getötet hat, ist er ein Mann. Sollen wir ihn nicht zu deinem Vater schicken? Dann könnten wir hierbleiben, ohne Verdacht zu erregen, und unsere beiden Kinder werden in Sicherheit sein. Und du waltest weiter deines Amtes als Kriegshäuptling. Wir erzählen einfach, daß die Kinder Verwandte besuchen. O Palmlilie, das ist die Lösung!«
Palmlilie schwieg eine Weile. Dann legte er seine Hände auf Distels Schulter und sah ihr tief in die Augen. »Wenn ich zustimme, stimmst du dann zu, daß ich einen Läufer nach Krallenstadt sende, um zu erfahren, was da vor sich geht? Und wie es um die Gesundheit des Häuptlings steht?« Maisfaser wartete atemlos auf ihre Antwort. Der Arm ihres Bruders auf ihrer Schulter zitterte. »Ja«, sagte die Mutter, »einverstanden.«
Palmlilie atmete tief ein. »Ich danke dir, mein Weib. Dann an die Arbeit. Wir müssen jemanden aussuchen, der nach Krallenstadt läuft und dem wir vertrauen können; er muß uns sofort benachrichtigen, wenn es stimmt, daß Krähenbart stirbt.«
Vogelkind ließ den Kopf sinken. »Ich glaube, das bin ich«, sagte er. »Ich bin nicht dein Bruder.« »Du wirst immer mein Bruder sein«, fing sie an, aber die Stimme ihrer Mutter brachte sie zum Schweigen.
»Wem können wir vertrauen, Palmlilie?«
Der Vater strich sich übers Kinn. »Dem jungen Steinerne Stirn vielleicht. Mit seinen siebzehn Sommern ist er schon ein geachteter Krieger. Laß mich mit ihm sprechen. Die Heiligen Thlatsinas wissen, daß wir genügend wertvolle Handelsware haben, um ihn für seine Ergebenheit gut zu bezahlen.«
Ihre Eltern verschwanden vom Fenster und bewegten sich außer Sicht. Maisfaser wandte sich zu Vogelkind. Sein Gesichtsausdruck hatte sich verdunkelt.
»Warum haben sie mir nie was gesagt?« fragte er flüsternd. »Ich bin fast ein Mann, Maisfaser. Sie hätten es mir sagen müssen! Ich … würde gern meine wirklichen Eltern kennen. Wer ist meine Mutter? Und wo ist sie? Wenn ich das wüßte, würde ich zu ihr gehen, jetzt sofort.«
Maisfasers Gedanken schössen kreuz und quer wie Bienen, die hier landen und dort landen. Vier Puter watschelten über die Plaza, hinter einem Kind her, das eine Yucca-Schnur schleifen ließ. Sie pickten nach der Schnur, hackten aufeinander ein und kollerten verzweifelt. »Vogelkind, erinnerst du dich noch, wie vor drei Nächten die Läufer ankamen?«
»Ja. Vater sagte, sie brächten Nachricht von Raubüberfällen.«
»Ich weiß, aber ich war krank und schlief nicht gut, und da hörte ich ihn etwas anderes sagen.« Mit aufgerissenen Augen starrte er sie an. »Was? Etwas über uns?«
»Ich glaube, ja. Ich habe damals nicht richtig hingehört, weil es keinen Sinn ergab, aber jetzt… Vogelkind, ich bin aufgewacht, als Vater sagte, die Läufer wollten ihn und Mutter warnen, daß die Zahlungen aufhören würden, falls der Häuptling stirbt.«
»Zahlungen? Was für Zahlungen?«
»Denk doch mal an die schönen Sachen in unserem Haus. Wir haben viel mehr Decken, seltene Töpfe und wunderbaren Schmuck als irgend jemand sonst im Dorf. Wo ist das alles hergekommen?« Die schwarzen Brauen von Vogelkind zogen sich zu einem Strich zusammen. Hinter ihm schnellte ein Erdkuckuck durchs Gebüsch, den Hals vorgereckt, und versuchte, einen Käfer zu packen. »Ich hab gedacht, das wären Zahlungen für die Steinmetzarbeit von Mutter und ein Tribut an Vater als Kriegshäuptling des Dorfs.«
»Das hab ich auch gedacht. Aber dann sagte Mutter, es sei ihr gleich, wenn die Zahlungen aufhörten; das Geheimnis würde mit ihnen sterben, und die Familie sei für alle Zeit in Sicherheit.« »Sicherheit? Vor wem?«
Sie sah Vogelkind starr an. »Sie glauben, daß jemand dich oder mich töten will.«
»Aber wenn einer von uns Eisenholz' Kind ist…« Angst zeichnete sich in seinem Gesicht ab. »Maisfaser, warum sollte Häuptling Krähenbart unsere Eltern für die Pflege von Eisenholz' Kind bezahlen?«
Sie packte sein Handgelenk.
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