Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
bernsteinfarbenen Schein, den die Stadt verbreitete. Der Tote lag ausgestreckt zwischen zwei Erdwällen. Der vierzehn Sommer alte Sklavenjunge Schwalbenschwanz kauerte mit entsetztem Gesicht hinter Kriecher.
»Wer ist es?« fragte Eisenholz. »Ist es -«
»Es ist Verhüllt-Seinen-Schwanz«, antwortete Kriecher und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß aus den Augen. Kurzgewachsen und dick, glich er einem Bären. Dichtes schwarzes Haar bedeckte die nackte Brust und die Arme. Sein weißer Kittel und die Mokassins schimmerten gespensterhaft im schwachen Lichtschein. »Ich habe Schwalbenschwanz ausgeschickt, um Brennholz zu holen. Der ist fast über ihn gefallen und kam sofort angerannt, um es mir zu melden. Als ich das Blut gesehen habe, rief ich Spannerraupe.«
Eisenholz' bester Freund lag zusammengerollt auf der Seite, das Gesicht nach Norden gerichtet, zur Straße, die zum heiligen Sipapu führte. Die Strahlen der Abendleute glitzerten in seinen blutunterlaufenen Augen.
Schmerz und Trauer drückten Eisenholz nieder, sein Magen zog sich zusammen. Mein Freund, erschlagen …
Durch einen Spalt im Schädel des Toten sah man das Gehirn. Es war klar, der Mann war überrumpelt worden. Bogen und Köcher mit Pfeilen fehlten, aber der Knoten der Leine, die das Steinmesser am Gürtel festhielt, war unversehrt. Ein spukhaftes Lächeln war auf seinem Gesicht erstarrt, als hätte er den Angreifer gesehen und ihn für einen Freund gehalten.
Wer würde ihn töten? Und warum? Wer gewann etwas durch seinen Tod? Menschen mordeten aus Haß, Angst, aus Gründen der Selbsterhaltung, aber hinter alledem lag Verzweiflung. Was trieb einen Mann derart zur Verzweiflung, daß er Verhüllt-Seinen-Schwanz tötete?
Der Mörder kannte die Botschaft, die er überbrachte.
Aber welchen Teil davon? Das Kind? Nein. Nicht einmal Verhüllt-Seinen-Schwanz kannte diese Wahrheit. Er hatte Verhüllt-Seinen-Schwanz angewiesen, Palmlilie zur Rückkehr zu Eisenholz zu bewegen, damit er im Fall eines Kriegs sein Stellvertreter sein könnte. Fürchtete der Mörder das, was Eisenholz tun würde, wenn er Palmlilies Antwort hörte?
Er hob seinen Blick zu Spannerraupe. Der Mann biß die Zähne zusammen. Ich hätte dich degradiert und durch Palmlilie ersetzt.
Aber Spannerraupe und Palmlilie waren enge Freunde gewesen. Spannerraupe war einfach nicht der Mann, der einen Freund aus Prestigegründen umbrachte. Oder doch?
Eisenholz wandte sich wieder Verhüllt-Seinen-Schwanz zu.
»Was hat er da in der Hand?« Eisenholz zeigte darauf.
»Was?« fragte Kriecher. »In der Hand?«
Kriecher bog behutsam die kalten Finger des Toten auseinander. Kaum hatte er den Gegenstand ergriffen, als er ihn schon mit einem leisen Schrei auf den Boden warf. Wie wild rieb er sich die Hand auf dem Boden ab.
Die Menge drängte murmelnd nach vorn und reckte die Hälse, um besser sehen zu können. »Heilige Götter«, flüsterte Kriecher. »Es ist eine Dachspfote. Aber… was ist das oben drauf?« »Leichenpulver«, erwiderte Eisenholz und erschauerte unwillkürlich. Pulverisiertes Leichenfleisch hatte einen bestimmten silbrigen Glanz, der an der Haut haften blieb. Im Schein, der von der Stadt ausging, schien es auf unheimliche Weise zu glühen.
Barsch befahl Eisenholz: »Spannerraupe, hol mir Nordlicht!«
Nachtsonne lag, in zwei Decken gewickelt, an Krähenbarts Seite. Durch die zurückgebundene Türklappe konnte sie Eisenholz und Nordlicht vor dem Zimmer stehen sehen, hochgewachsene schwarze Gestalten vor dem Hintergrund glitzernder Sterne. Eisenholz hatte die Arme gekreuzt, Nordlicht stand an der Wand. Sie fing nur ein paar Wörter auf; Nordlicht sprach ruhig und geduldig, während in Eisenholz' Stimme Gereiztheit mitschwang.
»… warum Verhüllt-Seinen-Schwanz?« fragte Eisenholz. »… für einen Mord gibt es Gründe… Wer hätte denn wissen können…?«
Nordlicht antwortete leise; Nachtsonne konnte seine Antwort nicht hören.
Die Gedanken entglitten ihr. Sie dachte an Eisenholz. An das erste Mal, als sie allein waren. Heilige Geister, was für eine lange Zeit… als hätte es in einem anderen Leben stattgefunden. Spät im Mond des Grünenden Grases hatte es sich ereignet.
Nachtsonne hatte den ganzen Tag eine schwierige Sklavengeburt beaufsichtigen müssen und war zum Umfallen müde gewesen. Als sie Krallenstadts mondbeglänzte Plaza überquerte, nur noch an Schlaf denkend, hatte sie aufschauend Krähenbart gesehen, der in der Tür zu ihren Zimmern stand,
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