Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
über den sterbenden Häuptling aus und strich Nachtsonne leicht über die Wangen. Er stand auf und ging zu Eisenholz. Die Glut im Feuerbecken verlieh seinem weißen Priesterhemd eine blutrote Färbung, als er daran vorbeiging. »Weißt du, wo Düne, der Heimatlose, lebt?«
»Ja.«
»Dann schick sofort einen Läufer hin und sag ihm…« Nordlicht gestikulierte verlegen. »Warne ihn, daß Düne etwas seltsam ist. Der alte Eremit könnte sich weigern zu kommen.«
»Selbst wenn er wüßte, daß der Häuptling stirbt?«
»O ja. Düne weiß sofort, weshalb er gerufen wird. Mach dem Läufer klar, daß er Düne sagt: Das ist keine Bitte, das ist ein Befehl der Gesegneten Sonne.«
»Wenn du solche Schwierigkeiten siehst, sollte ich vielleicht selbst hingehen?« Was würde ich nicht alles tun, um aus diesem Zimmer fortzukommen. »Düne kennt mich. Wenn ich selbst komme, wird das die Sache vielleicht vereinfachen.«
Nordlicht schaute zu Nachtsonne hin. Sie zupfte an den Decken und Fellen herum, um sicherzustellen, daß Krähenbart überall zugedeckt und warm blieb. »Krähenbart braucht dich nicht mehr, aber Nachtsonne vielleicht.«
Sie wechselten einen Blick, und Eisenholz schaute zu Boden. »Sie braucht mich nicht, Sonnenseher. Sie ist eine bemerkenswert starke Frau.«
Eisenholz wandte sich zum Gehen, aber Nordlicht packte ihn an den Schultern und hielt ihn fest. Mit ernstem Gesicht sagte er: »Das war kein Tadel. Ich habe es ernst gemeint.«
»Ich weiß.«
Nordlicht murmelte: »Ich mache dir für Düne eine Mixtur aus gemahlenem Türkis und Blaumais zurecht. Aber wenn er sich weigert, mit dir zurückzukommen, Eisenholz, dann gibst du ihm das nicht.«
»Du verlangst also, daß ich einen der mächtigsten Schamanen in der Geschichte unseres Volkes hinters Licht führe?«
Nordlichts dunkle Augen wurden sehr groß. »Genau. Und beeil dich. Ich erwarte dich in zwei bis drei Tagen zurück.«
»In drei. Düne ist alt und gebrechlich. Er braucht seine Zeit. Halte Ausschau nach meinen Läufern.« »Natürlich.«
Eisenholz ging geduckt durch die Tür und trat in die Kälte hinaus. Mit einem Seitenblick sah er noch kurz Nordlicht ebenfalls hinausgehen, in die entgegengesetzte Richtung, vermutlich um den Türkis und den Blaumais zu bereiten.
Eisenholz kletterte vier Leitern hinunter, kam auf die verschneite Plaza und machte einen Bogen um die schlurfenden Tänzer. Er bahnte sich einen Weg durch die Zuschauer. Seine eigene Kammer lag zur Linken, am südöstlichen Ende der hufeisenförmigen Anlage.
Die Erwachsenen verbeugten sich respektvoll, als er vorbeiging, und ein paar Kinder versuchten, den Saum seines langen Hemdes zu berühren. Nur zu berühren, nichts weiter. Danach starrten sie mit ihren kindlichen Augen ehrfürchtig auf ihre Finger. Zwei Frauen lächelten. Eisenholz nickte höflich zurück, aber es fiel ihm schwer, und sein Herz hämmerte.
Insgeheim verfluchte er sich. Wieso konnten sechzehn Sommer alte Erinnerungen ihm noch so lebhaft vor Augen stehen?
Nachtsonne hatte ihn einmal gebeten »zu vergessen«. Als wäre das so einfach, wie ein Fenster zu vermauern.
Der heisere Schrei eines Mannes schnitt durch das Dunkel.
Eisenholz fuhr herum und zog zugleich, mit einer Bewegung, seinen Knochendolch aus dem Gürtel. Eine Stille äußerster Bestürzung fiel über Krallenstadt. Aber dann brach Chaos aus. Die Leute rannten in alle Richtungen weg, brüllten Befehle, scheuchten die Kinder in die Häuser. Kleinkinder kreischten schrill. Einige ältere Bürger standen auf, um einen besseren Blick über das Getümmel zu bekommen. Fünf Krieger stürmten durch das Tor, das die beiden Hälften der Plaza verband.
»Was ist geschehen?« fragte Eisenholz.
»Komm schnell!« antwortete der schlaksige Mann mit dem viereckigen Gesicht vor ihm. Im rötlichen Schein der Plaza-Feuer wirkte Spannerraupe, als hätte er gerade der Wiedergeburt der Monsterkinder beigewohnt. »Kriecher hat einen Toten gefunden.«
Eisenholz rannte an seinen Kriegern vorbei.
Die Leute strömten zum Tor und dem westlichen Plaza-Einlaß. Sie drängten und beschimpften einander. Der Wind trug Aufschreie der Angst herüber. Eisenholz mußte sich hindurchzwängen. Er brüllte: »Aus dem Weg! Macht den Weg frei!«
Hinter dem Tor rannte er nach links zum Einlaß. Er fand Kriecher, den Anführer des Bison-Clans, in sein großartiges Gewand gekleidet, über einer Leiche knien. Sein Kopfputz lag neben ihm auf dem Boden, der lange Bisonbart glänzte im
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