Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
wird Kriecher sehr glücklich sein. Er hatte große Angst, als er dich sah. Er hat mich gebeten -«
»Wer ist Kriecher?« fragte Sängerling.
»Der Führer vom Bison-Clan.« Trauertaube lächelte. »Und einer, der die Gesegnete Federstein liebt.« Sängerling glaubte herauszuhören, daß ihr offenbar viel an Kriecher lag. Verwirrt griff er nach seiner Tasse. Irgend etwas stimmte hier nicht.
Seide sagte: »Vielen Dank, daß du dich um uns gekümmert hast, Trauertaube. Das Essen und der Tee waren wunderbar. Ich glaube, wir sollten jetzt etwas ruhen, bevor Eisenholz uns wieder holt. Wir brauchen weiter nichts. Du kannst gehen, wenn du willst.«
Trauertaube ging widerstrebend und betrachtete gebannt jede Einzelheit in Seides Gesicht, als sie die Leiter zum Dach hinaufkletterte.
Sängerling wartete, bis ihre Schritte nicht mehr zu hören waren, und flüsterte: »Um was ging denn das alles?«
Seides Kopf sank herab, und die Fülle ihres schwarzen Haares fiel um sie herum und streifte den Boden. »Ich weiß es nicht, Sängerling Aber es hat mir angst gemacht. Wie kann denn irgend jemand glauben, daß ich -«
»Ist dir der Name nicht aufgefallen? Federstein?« Seide runzelte die Stirn, aber dann öffnete sie staunend den Mund. »Moment! Ist das nicht die Frau, von der uns Schwalbenschwanz -« »Richtig! Nordlichts Cousine. Die Mogollon haben sie als Sklavin mitgenommen. Du hast dich sicher nicht daran erinnert, sonst wärst du nicht so ruhig geblieben.«
»Aber wieso träumt sie von mir?«
Sängerling winkte verlegen ab. »Ich glaube nicht daran. Aber - aber es ist doch komisch, daß wir in Krallenstadt eintreffen, nachdem sie gerade so einen Traum gehabt hat.«
Seide starrte durch die Dachöffnung auf den Staub, der im Licht der hellen Morgensonne tanzte. »Wenn einer der Ersten Menschen einem Ältesten des Bison-Clans von solch einer Vision erzählt - glaubst du wirklich, der würde es einer Sklavin weitererzählen? Und dann die Sklavin bitten, uns darüber auszufragen?«
Sängerling schaute stirnrunzelnd auf die Sitzmatten und schüttelte den Kopf. »Klingt nicht sehr klug, oder?«
»Es klingt lächerlich… Es sei denn, jemand versucht uns zu erschrecken.«
»Aber warum sollte uns jemand erschrecken? Hier kennt uns niemand. Ausgenommen Düne.« Seide warf das lange Haar über die Schulter und griff nach einer Tasse Tee. Sie nippte nachdenklich daran. »Düne kennt mich nicht. Und er hat auch nicht wissen können, daß ich mit dir komme.« »Hat sonst jemand gewußt, daß du geplant hast herzukommen?«
»Niemand.« Ihre Finger umklammerten die Tasse, und sie preßte ihre Lippen zusammen. »Nur meine … meine Mutter. Sie hat gesagt, ich sollte hierher kommen, wenn ich in Schwierigkeiten wäre.« »Aber wenn deine Mutter…« Er hielt inne, als er die Trauer in ihren Augen sah. »Könnte ihr Geist vielleicht zu dieser Federstein gesprochen haben?«
»Ihr Geist hätte wohl eher Nordlicht besucht.«
»Den großen Sonnenseher? Warum?«
»Sie kannte ihn … glaube ich.«
»Woher? Ist Nordlicht öfter in Schildkrötendorf gewesen?«
Seide bewegte den Kopf so leicht, daß er nicht sicher war, ob sie ihn wirklich geschüttelt hatte. Sie drehte die Tasse in ihrer Hand, nahm einen langen Schluck und setzte sie auf den Boden neben der Wärmschale ab. »Sängerling, ich habe dir manches nicht erzählt. Aber ich - ich glaube jetzt, daß ich es tun sollte.«
»Du kannst mir alles erzählen, was du willst. Du bist meine Freundin, Seide.«
Die Muskeln unter ihren glatten Wangen arbeiteten, und in ihren Augen stand nackte Angst. »Ich weiß das, Sängerling. Das weiß ich schon seit Tagen. Aber ich habe es einfach noch nicht über mich gebracht, darüber zu sprechen - weder zu dir noch zu sonst jemandem.«
»Ist es so schrecklich?«
»Ich habe Angst. Vielleicht bin ich in großer Gefahr.« Seide rutschte herum und packte seine beiden Hände mit festem Griff. »Nordlicht ist vielleicht mein Vater.«
»Dein Vater?«
»Pst! Nicht so laut.« Sie blickte zur Tür. »Ja. Mein Vater.«
»Aber… wie ist das möglich, Seide?«
»Das ist eine lange Geschichte.« Sie atmete tief ein. »Und ich kenne nur Bruchstücke davon. Hast du den Mann gesehen, der als Wachtposten über der Stadt stand?«
»Oben über dem Stadttor? Ja.«
»Sein Name ist Spannerraupe, und er ist der neue Kriegshäuptling. Er ist es, der gesagt hat, daß Nordlicht mein Vater ist. Oder besser, er hat Nordlicht beschuldigt, der Vater meines Bruders zu
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