Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
eine Linie gezeichnet und vergnügten sich mit Wettläufen. Diese Unterbrechung der Tagesarbeit, eine Mittagspause, um zu essen und zu spielen, war durchaus üblich. Webstühle mit halbfertigen Decken, die mit roten, braunen und grünen Mustern prunkten, standen an der Nordmauer aufgereiht, und neben ihnen lehnten Wiegenbretter. In Decken eingewickelte Kleinkinder krähten und winkten mit ihren Fäustchen.
Im kühlen Schatten neben ihnen schliefen Hunde. Eine Herde kollernder Truthähne stolzierte mit wackelnden Köpfen herum, darauf bedacht, nicht niedergetrampelt zu werden.
Vier Jungen, darunter der junge Schwalbenschwanz, standen am Start, die Arme ausgestreckt gleich Falken, die von einer Klippe abheben wollen. Schwalbenschwanz war zwei Kopf größer als die andern. Als Trauertaube »Los!« schrie, sausten die Jungen ab und warfen ihre Beine ins Richtung aufs Ziel. Schwalbenschwanz kam als erster an, aber die rund zehn Sklaven jubelten allen Läufern zu und schlugen ihnen auf den Rücken.
Als Eisenholz im Halbrund am Rand der Plaza herankam, hörte das Rennen mit einem Schlag auf. Man beobachtete ihn mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Angst. Das rote Hemd wippte ihm um die schwarzen Leggings. Er hatte die Überfälle angeführt, die zu ihrer Gefangennahme geführt hatten - die ältesten Sklaven auf der Plaza ausgenommen -, und keiner von ihnen war ihm besonders gewogen. Als junger Mann hatte er sich über so etwas keine Gedanken gemacht. Aber da er nun frei war von diesen Pflichten und schon von den Beschwerden des Alters geplagt, störte ein prickelndes Unbehagen seinen inneren Frieden.
Als er sich der Leiter näherte, traten Sängerling und Seide auf das Dach heraus. Hatten sie ihn kommen sehen? Oder nur auf ihn warten wollen? Sängerling trug ein frisches hellbraunes Hemd mit einem braunen und grünen Rautenornament auf dem Saum und an den Ärmeln. Er hatte ein Bündel über die Schulter geworfen. Seide sah hinreißend aus. Ihr gelbes Kleid hob die bläulichen Töne in ihrem schwarzen Haar hervor. Das ovale Gesicht mit den vollen Lippen war bezaubernd; in den großen dunklen Augen zeigte sich allerdings Wachsamkeit, und sie wirkte sehr reserviert. Eisenholz rief vom Fuß der Leiter empor: »Ich schätze eure Pünktlichkeit.«
Sängerling starrte mit einem seltsam ängstlichen Ausdruck auf ihn hinab. »Wir wollten dich nicht warten lassen.« Er stieg die Leiter hinunter, und Seide folgte ihm; ihre Haare flatterten im Wind. Sängerlings Abstieg mit dem wippenden Bündel auf dem Rücken war etwas schwerfällig; im Gegensatz dazu bewegte sich Seide mit athletischer Anmut und genau kontrollierten Reflexen. Als sie vor ihm standen, fragte Eisenholz: »Bereit?«
»Ja, Kriegs … Eisenholz.« Sängerling errötete, seine schmale Nase glühte.
»Dann kommt. Düne wartet schon.«
Die Rennen wurden abermals unterbrochen, aber Eisenholz sah Schwalbenschwanz Seide zuwinken. Sie lächelte und winkte zurück.
Schwalbenschwanz rief: »Das Brot war herrlich, es hat mir für den ganzen Heimweg gereicht.« »Das freut mich«, rief Seide.
Eisenholz verlangsamte den Schritt, um an Seides Seite zu gehen. »Du hast Schwalbenschwanz Brot gegeben?«
Sie warf ihm einen Seitenblick zu. »Ja. Er hatte einen anstrengenden Lauf hinter sich, um uns zu erreichen, und machte sich gleich nach dem Abendessen wieder auf den Rückweg. Ich dachte, mit dem Brot hat er es etwas leichter.«
»Das war auch sicher so. Die meisten wären einem Sklaven gegenüber nicht so freundlich gewesen.« Sie zuckte die Achseln.
Eisenholz sagte: »Der Sonnenseher Nordlicht wird dir dankbar sein; Schwalbenschwanz ist einer seiner Sklaven.«
Ihr Schritt wurde unsicher, wenn auch kaum merklich, als hätte sie der Name Nordlicht entmutigt. Aber dann ging sie mit hochgerecktem Kinn weiter hinter Sängerling her.
»Ich habe gehört«, sagte sie, die Worte wägend, »Nordlicht sei ein Hexenmeister. Stimmt das?« »Nein.« Eisenholz war über ihre Kühnheit verwundert. Nur ein sehr mutiger Mensch - oder einer, der unglaublich naiv war - würde es wagen, solch eine Frage zu stellen. »Er ist nur ein Priester, ein sehr heiliger Mann. Aber du wirst es selbst sehen. Er wartet mit Düne in der Kiva und -« Sie blieb ruckhaft stehen. Sie befeuchtete ihre Lippen, bevor sie sich zu Eisenholz umdrehte. »Er ist in der Kiva?«
»Ja.« Eisenholz betrachtete sie prüfend, er wollte hinter das Äußere blicken. »Stört dich das? Du kannst auch in deinem Zimmer warten,
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