Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
wenn du lieber -«
»Nein, nein, ich - ich möchte ihn ja sehen. Ich fühle mich sehr geehrt, wenn ich ihn sehen darf.« Das klang gezwungen. Entschlossen ging sie auf Sängerling zu, der unsicher auf sie gewartet hatte. »Er ist ein heiliger Mann, Seide«, sagte Eisenholz in der Hoffnung, ihre Ängste zu beseitigen. »Nichts weiter.«
Sie nickte und ging mit gesenktem Kopf weiter. Eisenholz überdachte noch einmal ihre Haltung; er suchte den Schlüssel zum Herzen dieser mysteriösen jungen Frau. Die meisten abgelegenen Dörfer klatschten über Nordlicht - und im übrigen alle Ersten Menschen. Aber wer hätte gedacht, daß solche absonderlichen Geschichten im Schildkrötendorf so ernst genommen würden? Die Leute schwatzten oft miteinander, aber im allgemeinen ging es nur um Tratsch. Doch Seides Furcht war beunruhigend. Hatten diese Geschichten inzwischen derart an Glaubwürdigkeit gewonnen? Du bist nicht mehr Kriegshäuptling, sagte er sich mit Nachdruck, du brauchst so etwas nicht mehr argwöhnisch zu beachten.
Sie näherten sich der Zimmerreihe, die die Plaza teilte; Eisenholz ging voraus zu der T-förmigen Tür und trat geduckt ein. Die kühlen Schatten des Altarraums umfingen ihn. Gedämpfter Feuerschein leuchtete von der Kiva unten empor und erhellte die drohenden Gesichter der Thlatsinas auf den Wänden - scharfe Schnäbel, pelzige Schnauzen und weiße Fangzähne.
Sängerling und Seide waren eingetreten und betrachteten benommen die unheimlichen, maskierten Götter.
»Sie sind wunderschön«, sagte Sängerling mit unterdrückter Stimme. Er nahm das Bündel von der Schulter und neigte den Kopf um jedem ins Gesicht zu sehen. »Wer hat sie gemalt?« »Nordlicht. Die Großen Krieger draußen sind auch sein Werk.«
»Bewundernswert, sein Können.« Sängerling ging näher heran, um die gefletschten Fangzähne des Weißen Wolf-Thlatsina näher zu betrachten; sie glänzten im Feuerschein.
Eisenholz sah belustigt zu. »Nordlicht haucht jedem Bild, das er malt, Leben ein. Aber kommt jetzt« - er deutete auf die Treppe, die in den feuerhellen Schoß der Kiva hinabführte - »das kann er dir selbst sagen.«
Sängerling zog den Atem ein, und sein Rückgrat wurde starr. Er und Seide sahen einander an und tauschten irgendein Geheimnis aus. Heiser flüsternd fragte Sängerling: »Er ist da unten?« Eisenholz versuchte das Verhalten des Jünglings einzuordnen. Hier steckte mehr dahinter als nur diese Geschichten. Seine alten Reflexe machten ihn wachsam, er war wie ein hungriger Hund, der die Nase in den Wind hält. »Ja, kommt nur. Ich stelle euch vor.«
Sängerling mußte erst seinen ganzen Mut zusammennehmen, aber dann straffte er sich und ging die Stufen hinunter. Eisenholz winkte Seide vorzugehen und folgte ihr; er war auf der Hut, doch er wußte nicht, wovor.
Ein Feuer brannte im Kasten auf der anderen Seite des runden Raums, ihnen genau gegenüber. Die vier roten Säulen, die gestaffelten gelben, roten und blauen Bänke - all das schien im Tanz der Flammen zu schwanken und zu schweben. In den sechsunddreißig kleinen Wandnischen schimmerten die heiligen Tanzstäbe, die Rasseln und anderes zeremonielles Gerät in orangefarbenem Licht.
Eisenholz blieb am Fuß der Treppe stehen und betrachtete forschend die wunderbar geschnitzten Thlatsina-Masken, die über den Nischen hingen. Ein unerklärlicher Schauer lief ihm kalt prickelnd den Rücken hinunter. Die Masken schienen Seide und Sängerling mit hohlen gespenstischen Augen anzustarren. Unwillkürlich umklammerte seine Hand den Griff seines Hirschbeindolches. Düne und Nordlicht standen über Krähenbarts Leiche, die auf der Fußtrommel zur Rechten lag, unter einer glitzernden türkisbesetzten Totendecke.
»Endlich!« sagte Düne. Angetan mit einem langen weißen Hemd, mit dem leuchtenden weißen Haar und den buschigen weißen Brauen, sah er geisterhaft aus. Sein faltenreiches Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, als er quer durch die Kiva zu Sängerling humpelte und dessen Hände ergriff. »Schön, dich zu sehen, mein Junge. Ich hatte schon gefürchtet, Krähenbart könnte verwest sein, bevor du hier bist.«
Sängerlings Lächeln wich aus seinem Gesicht. »Äh - nun, wir sind so schnell gekommen, wie wir konnten.«
»Ja, ich weiß. Der junge Schwalbenschwanz hat mir alles erzählt. Hast du meinen Beutel mitgebracht?«
»Ich hab's hier.« Sängerling beugte sich über sein beflecktes Bündel, schnürte es auf und holte einen perlenbestickten Beutel hervor,
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