Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
den er Düne ehrfurchtsvoll überreichte. »Ich hoffe, das ist es. Ich habe genau an der Stelle gesucht, die Schwalbenschwanz mir genannt hat.«
Düne nahm den Beutel liebevoll in den Arm. Die Perlen aus Türkis, Malachit und Koralle funkelten im Feuerschein. »Ja. Vielen Dank fürs Herbringen.«
Düne schaute Seide an, hob eine weiße Braue und forderte mit fragendem Seitenblick eine Erklärung von Sängerling.
»Oh«, stieß Sängerling verlegen hervor, »verzeih mir.« Er wies auf Seide. »Düne, das ist Seide vom Schildkrötendorf.«
Die Falten in Dünes Gesicht schienen sich zu vertiefen. Er stand regungslos und schaute Seide prüfend in die Augen.
Eisenholz wußte, wie unangenehm ein prüfender Blick von Düne sein konnte - er selbst fühlte sich dabei immer wie eine Packratte, die eine Eule schon in ihren Krallen hat -, aber Seide hielt dem Blick furchtlos stand, und Düne verzog die dünnen Lippen zu einem Lächeln.
Nach einem kurzen Augenblick der Stille trat Düne vor und ergriff zärtlich eine Hand von Seide. »Es ist sehr lange her«, sagte er sanft, »daß ich solch einen unendlich offenen Himmel in irgendeiner Seele schauen konnte. Weißt du, daß sie in dir ist?«
Seides volle Lippen öffneten sich. Sie zögerte und antwortete dann: »Ja, ich glaube schon.« Düne wurde ernst. »Du gleitest oft durch diesen Himmel, nicht wahr?«
»In … in meinen Träumen.« »Was für einen Vogel hast du als Schutzgeist?« Seide trat von einem Fuß auf den andern und blickte unbehaglich zu Sängerling. »Ich weiß nicht genau. Einen Raben, vielleicht.«
Düne rieb sich über sein runzliges Kinn; seine Augen verengten sich. »Ja, das ist einleuchtend. Besonders, da Sängerlings Helfer ein Coyote ist. Ihr beide -«
»Woher weißt du das?« rief Sängerling laut, zuckte aber zusammen, da er die heilige Stille der Kiva durchbrochen hatte. Schuldbewußt flüsterte er: »Düne, ich habe dir nie erzählt -«
»Das war nicht nötig. Du jaulst im Schlaf. Das ist nicht zu überhören.«
»Ich - ich Jaule?«
Düne wandte sich wieder an Seide. »Also, mein Junge, wenn du mir schon eine Frau ins Haus bringst, dann hast du dir wenigstens eine ausgesucht, die es wert ist.«
»Düne!« wandte Sängerling ein. »Düne, ich würde doch niemals … Ich meine, ja, Seide ist zwar bei mir gewesen, aber -«
»Ich hätte nichts dagegen.« Bis jetzt unbeachtet, trat Nordlicht vor. Die Anmut seiner Bewegungen verblüffte Eisenholz immer wieder. Schlank und hochgewachsen, schien er eher zu schweben als zu gehen. Sein wehendes schwarzes Haar umrahmte sein gelassenes Gesicht. Seine braunen Augen strahlten an diesem Nachmittag eine große Herzenswärme aus. »Du hast ihn doch über die Liebe aufgeklärt, Düne, nicht wahr?«
Seides Haltung erinnerte Eisenholz an eine Hirschkuh auf der Wiese, die überrascht worden ist, bewegungslos verharrt und bereit ist, beim geringsten Zeichen von Unheil zu fliehen. Und in ihren Augen, wie in denen einer Hirschkuh, war die gleiche Mischung von Neugier und Angst. »Natürlich nicht«, knurrte Düne. »Dazu war er noch nicht bereit.« »Wozu bereit?« fragte Sängerling. »Düne hat mir gesagt, ich soll meinen Körper vergessen. Das Fleisch sei unrein und mache mich nur taub für die Stimmen der Götter.«
Nordlicht lächelte heiter. »Nun, das stimmt ja auch, wenn wir von der Liebe des Fleisches sprechen. Aber Liebe ist ja mehr als die bloße Paarung von Leibern.«
Sängerling warf einen Blick auf Seide, aber sie schaute nur Nordlicht an.
Düne sagte: »Nordlicht, es ist sehr gewagt, mit jemandem in diesem Alter über Liebe zu sprechen. Er weiß ja nicht mal -«
»Als du zum ersten Mal mit mir über Liebe gesprochen hast, war ich so alt wie er«, erinnerte ihn Nordlicht freundlich.
»Du bist heilig geboren worden«, gab Düne zurück. »Sängerling ist stolz geboren worden.« Sängerling zuckte zusammen. »Ich bin nicht mehr so schlecht wie früher. Ich glaube, ich könnte jetzt etwas von der Liebe begreifen. Natürlich nur, wenn du willst.«
Seide beobachtete jede Bewegung von Nordlicht: wie er die Lippen verzog, wie ihm das Haar über die breite Brust fiel, wie er mit seinen braunen Augen zwinkerte.
Die junge Frau faszinierte Eisenholz. Der wechselnde Gesichtsausdruck erinnerte ihn seltsamerweise an Nachtsonne; sie war ganz bewußt sanftmütig oder jedenfalls auf diese Wirkung bedacht - kaum je spontan. Jede Verletzlichkeit blieb hinter einer undurchschaubaren Maske verborgen. »Aber du
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