Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
willst mir nichts sagen, Düne. Richtig?« fragte Sängerling.
»Wenn ich dir bei deinem jetzigen Ausbildungsstand etwas darüber sage, dann glaubst du vielleicht, du hast meine Erlaubnis, mit einem abstehenden Lendenschurz herumzurennen. Du bist noch nicht soweit, eine Liebe zu verstehen, die in der Seele geboren wird und in der Seele alt wird. Vertrau mir. Ich sage es dir, wenn es an der Zeit ist.«
Sängerling schluckte und nickte. »Ich vertraue dir.«
»Gut!« Düne klatschte in die Hände. »Dann an die Arbeit. Komm mit, Sängerling.« Er humpelte zur Leiche von Krähenbart.
Sängerling eilte ihm nach. »Wozu brauchst du mich?«
Düne blieb vor der türkisbesetzten Totendecke stehen. »Als erstes mußt du bedenken, daß das Leben selbst das größte aller heiligen Rituale ist. Als Wärter der Toten sorgen wir lediglich für Ordnung und dafür, daß alles zur rechten Zeit geschieht - genauso, wie wir auch in all den anderen Ritualen dafür sorgen, bei der Aussaat, der Ernte, der Erneuerung der Welt. Alles im Weltall hängt davon ab, daß es zur rechten Zeit geschieht. Andernfalls geraten die Räume für die Menschen und für die Tiere und für die Götter in Verwirrung, und die Welt bricht auseinander. Los jetzt.« Er legte seinen Kraftbeutel auf die Fußtrommel oberhalb von Krähenbarts Kopf. »Wir haben viel zu tun.«
»Und wir« - Nordlicht winkte Eisenholz und Seide - »müssen sie ungestört ihre Arbeit tun lassen.« Er neigte den Kopf zur Treppe. Sängerling drehte sich um. »Seide, wirst du -« »Es ist alles in Ordnung.« Sie lächelte ihm beruhigend zu. »Ich spaziere ein wenig durch die Stadt und gehe dann auf unser Zimmer. Dort warte ich auf dich.«
Sängerling warf einen besorgten Blick auf Eisenholz und starrte Nordlicht scharf an. »Ich komme, sobald wir hier fertig sind.«
Eisenholz folgte Nordlicht hinaus ins helle Sonnenlicht auf die westliche Plaza, und wartete auf Seide. Vorsichtig verließ sie den Altarraum und beobachtete erst die Plaza, bevor sie ins Freie trat. Eine Kriegerin, und nicht nur ihre Augen lassen das erkennen… Hat sie schon einen Kampf erlebt? Vielleicht während des Überfalls auf Schildkrötendorf.
Der warme Sonnenschein machte ihr Gesicht weicher; das Licht funkelte in ihrem hüftlangen Haar, als sie auf die Männer zuging. Eisenholz zog die Brauen zusammen. Als er sie zuerst aus dem vierten Stock erblickt hatte, war sie nur eine junge Frau an der Seite von Sängerling gewesen, und fast hätte er sie übersehen. Aber jetzt mußte er sich bezwingen, um sie nicht dauernd anzustarren. Etwas an ihr kam ihm ungemein vertraut vor, aber er wußte nicht, warum. Wie sie den Kopf neigte, eine Geste ihrer Hand, der Blick ihrer dunklen Augen. Er hatte Schildkrötendorf nie besucht und wegen der Nähe zu Lanzenblattdorf nicht einmal die Umgebung; er konnte sie also noch nie zuvor gesehen haben. Wieso beunruhigt sie mich also?
Sie blieb stehen und hob ihre spitze Nase in die Höhe. Ihre Nasenlöcher bebten, als der Duft des frischen Frühlingsgrases über die Plaza wehte. Oder versuchte sie, die Witterung von Gefahr aufzunehmen? So hatte er es auch oft gemacht, meist vor dem Kampf, als verriete ihm der Wind den Standort der feindlichen Krieger.
Die Sklaven waren wieder an die Arbeit gegangen, die Plaza lag still und leer. Staubwirbel sprangen hoch und schwankten, als der Windjunge heftig blies. Indem er sie beobachtete, überkam Eisenholz das Gefühl, daß sie aus dem verborgenen beobachtet würden.
Seine Blicke glitten über die Dächer und Türen. Er sagte zu Nordlicht: »Seides Dorf ist von den Turmbauern zerstört worden. Sie ist gekommen, um hier nach Verwandten zu suchen.« Nordlichts Gesicht drückte Bedauern aus. »Ich verstehe.« Er streckte Seide einladend eine Hand entgegen. Sie kam auch näher, allerdings mit den Fäusten in den Hüften, als wäre sie auf einen Kampf gefaßt. »Meine Mutter hat immer gesagt, ich hätte Verwandte hier; die hätten Schildkrötendorf schon vor vielen Sommern verlassen.«
Nordlicht schien ihre Abwehrhaltung zu übersehen. »Weißt du, wie sie heißen?«
»Nein. Ich habe nie danach gefragt. Ich hätte nie gedacht, daß das eines Tages wichtig wäre. Aber jetzt…« Sie blickte Nordlicht an, und beinahe hätte sie ihre Beherrschung verloren. Sie ballte die Fäuste so krampfhaft, daß ihre Knöchel weiß wurden. »Aber jetzt müßte ich über meine Familie Bescheid wissen. Und zwar dringend.«
»Ich verstehe«, sagte er sanft. »Aber
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