Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
sie wie ein Schlag auf den Kopf, der ihr Schwindel und Übelkeit verursachte. »Tut mir leid, dich zu enttäuschen.«
Die Augen Schlangenhaupts verengten sich zu Schlitzen. »Sag mir eins, Mutter. Wie hast du dieses Schauspiel arrangiert?«
»Was Nordlicht und Düne gesagt haben, war alles w-wahr.«
»Ja«, er lachte leise, »das verrät mir schon die Sicherheit in deiner Stimme. Spielt jetzt keine Rolle mehr. Wenigstens nicht im Augenblick. Hast du auch gewußt, daß -« »Was soll das heißen, nicht im Augenblicke«
Schlangenhaupt zuckte die Achseln. »Ich bin nicht sicher. Schließlich war ich der einzige, der deine Vertrauensbrüche mitangesehen hat. Es gibt keine Zeugen, die meine Aussage bestätigen können, obwohl ich manchen Leuten deine Verbrechen angedeutet habe - als ich ein Junge war und noch nicht schlau genug. Trotzdem, die Ältesten würden mir nicht glauben, wenn ich es ihnen erzählte. Aber…« Er machte eine Pause. »Ich habe erwogen, in jedem Fall ganz offen von ihnen zu sprechen.« »Das würde dich genauso beflecken wie mich.« Wem hatte er etwas erzählt? Wer hätte einem jungen zugehört?
»Das glaube ich nicht. Als Gesegnete Sonne könnte ich mich davon erholen. Du allerdings, du wärst vernichtet.«
Wütend und zutiefst erschrocken zugleich kniff sie die Augen zusammen. »Ich würde schon dafür sorgen, daß du dich nicht davon erholst, mein Sohn. Ich würde -«
»Ach Mutter.« Er seufzte, als wäre er schmerzlich berührt. »Ich weiß, du planst schon, mich so auszuschalten, daß dir kein Schaden daraus erwächst. Laß das! Vergiß es sofort! Sonst könnte ich mich dazu entschließen, Leute aufzurufen, die meine Geschichten mit vielerlei interessanten Einzelheiten so aufwerten würden, daß die Ältesten deine Befähigung als Ehrwürdige Mutter von Krallenstadt in Frage stellen könnten.«
Bestürzt und von ihrer Gefangenschaft noch geschwächt wünschte sie sehnlichst, sich hinsetzen zu können, wagte aber nicht, ihm zu zeigen, wie verletzlich sie war. Nachtsonne lehnte sich lässig an die Wand und schloß ihre bebenden Knie.
»Mein Sohn«, sagte sie gelassen, »was für einen Pöbel du auch immer auf deine Seite bringen magst, am Ende wirst du gegen mich kämpfen müssen. Und diesen Kampf, das versichere ich dir, wirst du verlieren.«
»Hast du vor, mich zu ermorden, Mutter?« Er hob spöttisch eine Augenbraue. »Aber vorher will ich dir noch verraten, daß ich auch Krähenbart gefolgt bin; ja, ja, das wird dich amüsieren.« Begierig, sie zu verletzen, beugte er sich vor und zischte: »Ich habe gesehen, wie er sich mit Dutzenden von Sklavinnen gepaart hat. Aber alle, Mutter, waren deine Sklavinnen. Ich weiß nicht, warum mein Vater das getan hat, aber er hat sich mit solcher Gewalt auf sie geworfen, daß ich annahm, er hat es aus Rache getan.«
Geräusche von der Plaza drangen nach oben, Husten, weinende Babys, leise Unterhaltungen. Hölzerne Löffel klirrten gegen Töpfe. Der starke Geruch gebackener Maiskuchen stieg auf dem kühlen Wind in die Höhe.
»Fordere mich nicht heraus, mein Sohn. Vielleicht vernichtest du mich, aber ich ziehe dich mit mir hinab.« Sie ballte resolut eine Faust. »Darauf gebe ich dir mein Wort.«
Sie schritt erhobenen Hauptes an ihrem Sohn vorbei. Als sie geduckt durch den Vorhang in die fahlrosige Dämmerung trat, hörte sie ihn rufen: »Auch Spannerraupe bin ich gefolgt, Mutter. Ich habe zugesehen, wann immer er sich mit Wolkenspiel gepaart hat. Und Nordlicht, dein Neffe, der war der schlimmste von allen. Du hast keine Ahnung, welche grausigen Verbrechen er begangen hat. Erinnerst du dich an Rehkitz? Trauertaube kann meine Worte bestätigen! Sie ist mir an jenem Tag gefolgt und hat alles gesehen…«
Nachtsonne kletterte die Leiter hinab zum Dach des vierten Stockwerks und fing an zu laufen; so schnell wie möglich wollte sie in ihr Zimmer zurückkehren.
38. K APITEL
Distel trabte auf dem Pfad vor Zikade her. Ihr Weg schlängelte sich durch die Hügel und bog nach Süden von der heiligen Straße ab, die südwestlich zur Buckelkuppe und zum Hochfelsendorf unterhalb der Kuppe führte.
Vieles hatte sich verändert; ihr gelbes Kleid war ruß- und schlammverschmutzt, ihr feingeschnittenes Gesicht mit einer Staubschicht bedeckt. Ihr Leben lang war sie so penibel gewesen, sehr zu Maisfasers und Vogelkinds Verdruß. Jetzt hatten sich Grashalme und Zweige in ihrem schwarzen Haar verfangen, das ihr in einem Zopf über den Rücken hing.
Zikade sah
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