Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
»Sind wir denn sicher?«
Distel besah sich den Felsen, der sie verbarg. »Ich glaube schon. Wenigstens für eine Zeithand oder zwei.«
Inzwischen war es völlig Nacht; die sechs flackernden Feuer im Tal brannten hell, und die kühle Brise wehte den Duft der brennenden Beifußhölzer heran.
»Warum so ein großes Lager?« murmelte Distel.
»Meinst du, sie sammeln sich vielleicht, um eines unserer Dörfer zu überfallen?« fragte Zikade, den Mund voller Hirschfleisch. Der Beutel mit dem Fleisch lag auf einem Stein vor ihr. Distel nahm sich selbst ein Stück davon. Während sie kaute, versuchte sie sich die Lage der nächsten Dörfer vorzustellen.
Das Hochfelsendorf lag unmittelbar nördlich der Buckelkuppe, doch dessen streitsüchtige Krieger hatten gerade wegen der engen Nachbarschaft zu den Mogollon einen Ruf der Wildheit, den sogar die Feuerhunde respektierten. »Vielleicht, aber Horden, die Überfälle planen, haben selten mehr als zwanzig oder dreißig Männer dabei.«
Das schöne Gesicht von Palmlilie tauchte vor dem Hintergrund ihrer Seele auf, sehr ernst, mit einem grimmigen Funkeln in den braunen Augen. Vor siebzehn Sommern hatten sie außerhalb von Krallenstadt gesessen, wo Palmlilie sich aus Feuerstein eine feine Pfeilspitze geschlagen hatte, während sie damit beschäftigt gewesen war, einen Stoff in einem Bottich mit vergorenem Feigenkaktussaft herumzurühren. Der seit sieben Tagen eingeweichte Stoff hatte sich wunderschön rötlich-braun gefärbt. Palmlilie, mit gerunzelter Stirn, hatte nachdenklich gesagt: »Eisenholz hat mir heute morgen erklärt, daß Banden mit mehr als dreißig Mann kaum noch zu kontrollieren sind. Er hat gesagt, je mehr Männer dabei sind, um so mehr Streit wird es geben.« Er hatte mit der halbfertigen Pfeilspitze gestikuliert. »Einer ist immer unzufrieden. Die Männer teilen sich auf und wählen Anführer für ihre eigenen Clan-Gruppen innerhalb der Bande - und damit fängt der Ärger an…« Distel ballte die Fäuste; sie versuchte, sein Lächeln zu vergessen, und auch, wie sehr er ihr fehlte. »Um Sklaven und Nahrungsmittel zu rauben, würde niemand so viele Krieger mitnehmen.« »Vielleicht wollen sie sich aufteilen«, schlug Zikade vor, »und dann von hier aus drei oder vier Horden ausschicken.«
»Das ist möglich. Aber wer ist dieser Krieger des Rechten Wegs? Wieso läuft der frei herum? Die Feuerhunde müßten ihn eigentlich töten. Oder wenigstens fesseln, um ihn zu martern. Das ergibt einfach keinen Sinn.«
Distel hob den Kopf, um hinunterzuspähen. Der anschwellende Feuerschein malte einen goldenen Kreis auf den hinabgestürzten Felsbrocken unten, verwandelte die schrägen Felswände in Schattenrisse und beleuchtete drei Männer, die um das Feuer herumstanden. Der Krieger des Rechten Wegs war einer davon. Er nippte an seiner Teetasse, den Kopf gesenkt, mit gerunzelter Stirn.
»Es ist auch möglich«, sagte Distel zu Zikade, »daß sie die vielen Krieger nicht für einen Angriff brauchen, sondern um eine wichtige Person zu schützen.«
»Wen denn?«
»Das werde ich herausfinden. Ich muß da runter, Zikade, und du bleibst hier! Wenn ich nach einer Zeithand noch nicht zurück bin, dann schleich dich runter zu der heiligen Straße nach Süden und such dir dort ein Versteck. Ich treffe dich da. Wenn du mich bis zum Tagesanbruch noch nicht siehst, dann lauf, so schnell du kannst, nach Krallenstadt. Hast du verstanden?«
Der Mund von Zikade bebte. »Ich will mit dir kommen.«
»Das ist zu gefährlich.«
»Aber… w-was hast du denn da unten zu suchen?«
»Ich muß wissen, ob die wirklich einen Überfall planen oder ob sie eine Art von Geleitschutz bilden. Dann komme ich zurück. Es wird nicht lange dauern.«
Zikade befeuchtete sich die Lippen. »Distel, ich - ich habe Angst, nach Krallenstadt zu gehen. Da kenne ich keinen Menschen, und ich habe gehört, daß viele Hexen -«
»Maisfaser ist dort«, sagte Distel und hob Zikades Kinn hoch, um ihr in die furchtsamen Augen zu blicken. »Ich bin mir ziemlich sicher. Aber ich werde bestimmt in einer Zeithand wieder hier sein, Zikade. Sei unbesorgt.«
Zikade nickte tapfer.
Distel sagte: »Denk dran, bleib hinter diesem Felsblock, und beweg dich nicht soviel, damit dich die Wachtposten nicht sehen.«
»Versprochen, Distel.«
Distel lächelte ihr zu und machte sich auf. Sie glitt in Etappen auf ihrem Bauch hügelabwärts, in wachsamen Intervallen, so wie Palmlilie es ihr beigebracht hatte: rutschen, anhalten, sich
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