Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
auf den Felsen überall Blut in Pfützen zusammengeflossen. Eichelhäher war durch die Reihen der Toten gewandert, und dabei hatte sich der Saum des Hemdes derart mit Blut vollgesogen, daß er es alle zwanzig Schritte auswringen mußte. »Für ihre Pflege wurden wir ungewöhnlich gut bezahlt-«
»Von wem?« fragte Eichelhäher. »Wer hätte sich schon um das Baby einer Sklavin gekümmert?« Distel erschauerte im kalten Wind. »Der Vater, Großer Häuptling.«
»Der Vater?«
»Ja. Ich glaube, der Mann, den deine Tochter liebte, war der Kriegshäuptling Eisenholz. Er -« »Eisenholz?« Eichelhäher merkte, wie er erbleichte.
»Ja.«
»Wie kannst du sagen, daß sie ihn liebte?« Ärger stieg in ihm auf, ein wilder Zorn, der sich zu mörderischer Wut steigerte. »Es war wohl eher so, daß er seine Lust bei Rehkitz suchte und sie ihn haßte!«
»Nein, in diesem Fall nicht. So ist es allerdings gewöhnlich, wenn die Herren sich mit ihren Sklavinnen paaren. Rehkitz hat mir gestanden, daß sie ihn liebte, Großer Häuptling, aber das hätte ich auch so gewußt; wenn sie von ihrem Liebhaber sprach, leuchteten ihre Augen.«
Eichelhäher erinnerte sich an dieses Licht in den Augen und die Art, wie sie den Menschen lächelnd ihre Liebe gezeigt hatte. Er preßte die Lippen zusammen, und sein Herz hämmerte …
Nach dem Kampf hatte er eine verstreute Gruppe seiner Krieger gesammelt und versucht, Rehkitz zu befreien. Krähenbart hatte das vorausgesehen; in einem Hinterhalt an der Straße hatte er Eichelhähers Trupp abschlachten lassen. Die wenigen, die entkamen, Eichelhäher eingeschlossen, hatten sich durch die gewundenen Täler und über die kieferbewachsenen Gila-Monster-Klippen zurückgeschleppt, um Balsam für die Wunden ihrer Seele und ihres Leibes zu finden.
Doch die Erkenntnis, daß er erfolglos geblieben war, daß seine Tochter lebte und er sie nicht aus den Qualen der Sklaverei befreien konnte, hatte Eichelhäher fast umgebracht. Er hatte sich in sein Haus hoch oben auf der Klippenwand eingeschlossen, seinen Hund gestreichelt und ihm aufgetragen, Feuer zu machen und Tee aufzubrühen. Hatte dem Hund aufgetragen, das Feuer auszumachen… und in diesem Moment war ihm aufgegangen, daß er dabei war, wahnsinnig zu werden.
»Sag mir«, unterbrach er sie und riß sich in die Gegenwart zurück, »wie kommst du darauf, daß das Kind, das der Priester Nordlicht dir anvertraut hat, überhaupt das Kind von Rehkitz war? Ich weiß, daß Nordlicht sagte, die Mutter sei eine Sklavin - aber es könnte auch eine andere Sklavin gewesen sein.« »Zu der Zeit gab es keine anderen schwangeren Sklavinnen. Jedenfalls habe ich von keiner gewußt…« Sie zögerte und blickte ihn verzagt und voller Trauer an. »Kennst du das Schicksal deiner Tochter? Was ihr wirklich zugestoßen ist?«
Eichelhäher hob die verschränkten Hände, um sein Kinn darauf zu stützen. »Ich habe Geschichten gehört, von Händlern, die bei den Sonnenwend-Feiern dabei waren. Sie haben erzählt, sie sei ermordet worden, man habe die Leiche auf einem Abfallhügel gefunden. Aber ich kenne keine Einzelheiten.« Distel schob sich das lange wellige Haar über die Schulter und kreuzte die Arme. »Großer Häuptling, soll ich offen sprechen? Denn das wird nicht leicht für dich sein, nicht einmal nach so vielen Sommern.«
»Ich schätze ein offenes Wort. Ich muß alles wissen. Sprich weiter!« Distel nickte. »Rehkitz ist ins Herz gestochen worden. Das Kind wurde ihr aus dem Leib geschnitten.«
Das Gefühl einer ungeheuren Leere überkam ihn. Mit gepreßter Stimme fragte er: »Aus dem Leib geschnitten? Was für ein Geistesgestörter könnte so etwas tun?«
»Das weiß ich nicht. Der Mörder wurde nie gefunden.«
»Wurde wohl auch nicht mit Nachdruck gesucht, nehme ich an.«
»Ich hörte, daß Eisenholz wirklich nach dem Mörder geforscht hat, aber du weißt, wie Sonnenwend-Feiern ablaufen. So viele Leute waren in Krallenstadt, daß die Suche einfach unmöglich war.« Eichelhähers wedelnde Hand warf dunkle Schatten über den Erdboden. »Du nimmst also an, Eisenholz war der Vater meiner Enkeltochter, und Rehkitz liebte ihn. Du glaubst auch, daß er es war, der dafür bezahlt hat, um Maisfaser aufzuziehen.«
»Das glaube ich.«
»Nun ja, es ist nicht ausgeschlossen. Männer sind seltsame Geschöpfe«, sagte er mit zusammengekniffenen Augen. »Wenn ein Mann ein Kind will, dann kann er es von fast jeder Frau haben, von hohem oder niederem Stand. Aber kein Mann
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