Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
Polterer, ich habe Springender Dachs mit eigenen Ohren sagen hören, dass er das Dorf niedergebrannt hat. Nichts ist mehr davon übrig. Es ist völlig …«
»Da gibt es etwas… jemanden… den ich suchen muss.«
Sie wusste, wen er damit meinte. »Ich - ich helfe dir suchen, Polterer.«
Der Junge senkte nachdenklich den Kopf und betrachtete seine Hände. Er würde die Kuppen der ersten drei Finger an beiden Händen verlieren und die zwei Glieder seiner kleinen Finger. »Zaunkönig, du musst mir helfen, diese Finger abzuhaken. Ich spüre bereits, wie die Schattengeister in meine Hände kriechen.«
»Natürlich, Polterer. Sag mir nur, wann du es tun willst.«
Tränen schimmerten in seinen Augen, gegen die er mit heftigem Blinzeln ankämpfte. »Und noch etwas - hilfst du mir auch, einen Vogel zu fangen?«
Die Verzweiflung in seiner Stimme fuhr Zaunkönig wie ein Dolch ins Herz. Sie langte hinauf zu den ineinander verkeilten Ästen, die das Dach bildeten, und begann möglichst lange Streifen Rinde davon abzuziehen. »Daraus werde ich jetzt gleich ein Netz flechten. Die Vögel werden zwar erst auffliegen, wenn Großvater Tagbringer erwacht ist, aber wir können ja inzwischen einen geeigneten Platz suchen, um die Falle auszulegen.«
Der blasse, violette Schein der Morgendämmerung färbte bereits die Wipfel der höchsten Bäume, doch über dem Uferstreifen lag noch der schieferfarbene Mantel der nächtlichen Schatten, Oben am Himmel funkelten nur noch die hellsten Höfe der Nachtwanderer. Die anderen hatten sich vor dem erwachenden Tag zurückgezogen.
Blauer Rabe erfasste mit aufmerksamen Blicken den Uferstreifen, an dem er entlangpaddelte. Gestern, gegen Mittag, hatte er eine Spur entdeckt, die sich vom Ufer hinauf zu den Bäumen zog, aber sie war sehr unscheinbar gewesen und hätte von allem möglichen stammen können, von Rehen, Wölfen oder auch von Menschen. Er war weiter gepaddelt… doch das Bild war ihm im Gedächtnis geblieben und hatte ihn bis in den Schlaf verfolgt. Gegen Mitternacht war er aufgestanden, hatte sein Kanu ins Wasser geschoben und sich daran gemacht, den ganzen Weg bis zu dieser Stelle zurück zu paddeln, um die Spur doch näher in Augenschein zu nehmen.
Nach sechs Tagen im Kanu, in denen er sich nur von dem wenigen ernährt hatte, was er bei seiner nächtlichen Rast im Wald finden konnte, paddelte Blauer Rabe wie ein schwächlicher Greis. Seine Schultermuskeln fühlten sich an, als sei das Paddel nicht aus Holz, sondern aus Granit gehauen. Von etwaigen Verfolgern hatte er bisher nichts bemerkt. Aber sie waren ihm auf der Spur. Das wusste er ganz genau. Er kannte die Seelen der Anführerinnen des Wanderer-Klans nur zu gut. Bisher hatte er nur eines von Zaunkönigs Lagern entdeckt, jenes, wo sie die erste Nacht nach ihrer Flucht verbracht hatte. In dieser Nacht hatte es heftig geschneit. Als sie am nächsten Morgen das Kanu gepackt und ins Wasser geschoben hatte, war es ihr nicht eingefallen, ihre Spuren zu verwischen. Vielleicht aus Furcht, oder weil sie es eilig gehabt hatte. Vielleicht dachte sie auch, der Schnee würde die Abdrücke ihrer Mokassins wieder zudecken. Welche Gründe sie für ihre Unachtsamkeit auch gehabt haben mochte, von da ab hatte sie ihre Spuren jedenfalls so gründlich verwischt wie ein verwundeter Krieger der weiß, dass er verfolgt wird.
Blauer Rabe kniff die Brauen zusammen. Weiter vorn hatte er einen Streifen ausgemacht, der sich etwas dunkler aus dem Schnee abhob und vom Wasser aus direkt zum felsigen Ufer führte. Er tauchte das Paddel in das ruhige, grüne Wasser und verlangsamte die Fahrt. Aus dieser Entfernung konnte er nicht ganz sicher sein, aber der dunkle Streifen sah tatsächlich nach einer Spur aus… Aber es war nicht die, die er gestern bemerkt hatte. Diese hier war viel deutlicher. Und offenbar noch recht frisch. Als er das Kanu näher an Ufer steuerte, sah er in den Büschen an der Wasserkante etwas Weißes schimmern. Er fuhr noch näher heran und erkannte jetzt den bemalten Bug eines Kanus, der kaum sichtbar aus dem Gestrüpp hervorlugte. Die Spur führte darauf zu und verschwand dann im Wald. Blauer Rabe schlug das Herz bis zum Hals. Mit zwei Paddelschlägen hatte er das Ufer erreicht und sprang mit einem Satz ins knietiefe Wasser. Er zog das Kanu aufs Ufer und machte sich dann daran, die Spuren eingehend zu untersuchen.
Es waren tatsächlich die Abdrücke von Mokassins.
Von zwei Paar Mokassins.
18. Kapitel
Ein ziehender Schmerz im Arm
Weitere Kostenlose Bücher