Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
bereit, Kriegsführer.« »Gut«, sagte Springender Dachs, den Blick auf den Pfad gerichtet, der hügelaufwärts führte. »Schick deine Gruppen los.«
Er selbst rührte sich nicht. Stattdessen reckte er den Kopf vor und lauschte angestrengt in den undurchdringlichen Nebel, um zu verstehen, was die Geister ihm zuriefen. Ihre Stimmen waren nur mehr ein kaum hörbares Wispern…
Wütend brüllte er: »Was habt ihr gesagt? Los, ich will es wissen!«
Die anderen hatten sich bereits auf ihren Weg gemacht. Elchgeweih stand mit ihrem Bogen in der Hand da, die Augen zusammengekniffen, als entdecke sie etwas im Nebel, das für Zaunkönig nicht sichtbar war.
Aber sie konnte Polterer durch die dichten Dunstschleier hindurch spüren. Er versteckte sich hier irgendwo ganz in der Nähe. Seine Seelen schwebten um sie herum, und wenn sie sie berührten, fühlte es sich an, als striche eine Feder sanft über ihre Schulter.
Polterer, bleib bitte in deinem Versteck. Sie kommen!
»Steh auf, Zaunkönig«, murmelte Elchgeweih.
Die Lederriemen hatten tiefe Striemen in ihre Handgelenke geschnitten, und als sie sich im Sand abstützte, um aufzustehen, schoss ihr ein brennender Schmerz in die Arme.
»Ich bin… soweit, Elchgeweih.«
Der Kopf der Kriegerin bewegte sich nicht, nur ihre Augen senkten sich, um Zaunkönig anzusehen. Zitternd und schwer atmend stand das Mädchen vor ihr.
Elchgeweih zog ihr Messer, schnitt erst den Lederriemen von ihrem Gürtel ab und durchtrennte anschließend die Fesseln um Zaunkönigs Handgelenke. Zaunkönig beobachtete schweigend, wie die blutigen Lederriemen auf den Boden fielen, und starrte dann ungläubig zu Elchgeweih hoch. »Ich kann keinen von uns beiden schützen, solange es mir nicht möglich ist, mich frei zu bewegen«, erklärte die Kriegerin. »Und du kannst dich mit gefesselten Händen auch nicht schützen.« »Mich…schützen? Lässt du mich gehen?«
»Ja. Ich möchte, dass du so lange wie möglich in meiner Nähe bleibst, doch wenn die Situation ernst wird, dann rennst du los.«
Zaunkönig befeuchtete sich die aufgeplatzten Lippen. »Elchgeweih, warum bindest du mich nicht an einem Baum fest, wie Eichel es vorgeschlagen hat? Oder - oder lässt mich jetzt gleich laufen?« »Das geht nicht.« Elchgeweih ließ seufzend die Luft entweichen. »Springender Dachs wird zurückkommen, und wenn er dann die Spuren meines Tuns im Sand entdeckt, hat er genau den Grund in der Hand, den er braucht, um mich umzubringen.« Sie zog einen Pfeil aus ihrem Köcher und legte ihn auf die Sehne. »Wenn sich deine Spuren hingegen während des Kampfgetümmels von meinen trennen, kann mir niemand einen Vorwurf machen.«
Zaunkönig schluckte hart. Ihre Kehle brannte. Hatte sie richtig gehört? Hatte Elchgeweih ihr gerade erklärt, wie und wann sie fliehen sollte?
Elchgeweih maß Zaunkönig mit einem harten Blick. »Und komm ja nicht zurück, Zaunkönig. Ich weiß, dass dein Onkel dir gesagt hat, er wünsche sich, dass du nach Hause zurückkehrst und eines Tages Klan-Vorsteherin wirst…, aber du musst mir glauben, dass dies ein schlechter Ratschlag war. Ich sage dir das von Frau zu Frau. Wenn du in dein Dorf zurückgehst, werden die Leute närrisch werden und dich mit endlosen Fragen bestürmen - und eines Tages wird die Wahrheit ans Licht kommen.« Sie prüfte die Spannung der Bogensehne, indem sie mit der Fingerspitze daran zupfte und auf das Geräusch hörte. »Ich habe deinem Onkel versprochen, alles in meiner Macht stehende zu tun, um dein Leben zu schützen. Und wenn du mir dabei helfen willst, mein Versprechen zu halten, darfst du nie wieder ins Wandererdorf zurückkehren.«
Zaunkönig drückte die Knie durch, um nicht ins Taumeln zu geraten. All ihre Erinnerungen an zu Hause, an die sie sich in diesen grauenvollen Tagen geklammert hatte, die gemütliche Wärme im Langhaus, die leisen Geräusche der Bewohner am Morgen, ihr Lachen, die Stimme ihrer Großmutter… würden die jetzt nur Erinnerungen bleiben? Auf immer und ewig?
Zaunkönig zitterte am ganzen Körper, doch sie nickte tapfer: »Ja, das will ich tun. Dir helfen, dein Versprechen zu halten.«
Sanft legte Elchgeweih eine Hand auf Zaunkönigs Schulter. »Gut, dann werde ich dir sagen, wann du loslaufen sollst. Aber wenn du mein Kommando hörst, darfst du nicht zögern. Gleichgültig, was passiert, was du siehst oder hörst. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, dann rennst du so schnell du nur kannst. Hast du mich verstanden?«
»Ja.«
Elchgeweih
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