Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
Eistaucher aufgebracht. »Bis das Falschgesicht noch einen von uns tötet?« »Ich bitte dich, Eistaucher. Wenn der Junge so viel Macht besitzt, wie du glaubst, weshalb konnte es uns dann so mühelos gelingen, sein Dorf zu überfallen und ihn zu rauben? Warum hat er unsere Krieger nicht in dem Augenblick mittels eines Wortes getötet, als er ihrer ansichtig wurde? Warum steht Springender Dachs noch unversehrt dort drüben neben dieser großen Birke? Polterer hat ihn gewiss sofort gesehen, als er das Buntfelsendorf betrat. Warum sollte der Junge ausgerechnet ihn, Springender Dachs, am Leben lassen?«
Polterers Kopf fuhr herum, und der Blick seiner schwarzen Augen machte sich an Springender Dachs fest, als sähe er den Kriegsführer zum ersten Mal.
Springender Dachs versuchte den Jungen solange anzustarren, bis dieser verlegen wegblickte, doch es gelang ihm nicht. Als er schließlich den Blick senkte, ging ein Zischen durch die Menge. Zaunkönig spürte die Erregung ganz deutlich, die sich zunehmend steigerte. Die Angst schnürte ihr mit unsichtbarer Hand die Kehle zu. Sie kauerte sich tiefer unter ihre Decke und beobachtete jede von Polterers Bewegungen. Sein durchdringender Blick musterte Springender Dachs vom Kopf bis zu den Mokassins, als wollte er die Gestalt des Mannes, der sein Volk ausgelöscht hatte, in sein Gedächtnis brennen.
Zaunkönig liefen eisige Schauer über den Rücken.
Frost-auf-den-Weiden beugte sich zu ihr hin. »Hör auf, so herumzuzappeln, Mädchen. Möchtest du dich auf meinen Schoß setzen?«
Zaunkönigs Großmutter trug das weiße Haar zu einem straffen Knoten oben auf dem Kopf zusammengefasst, und diese strenge Frisur ließ die tiefen Falten, die sich durch ihr braunes Gesicht zogen, noch stärker hervortreten. Zaunkönig schüttelte den Kopf. »Nein. Ich möchte zuschauen. Ich mache mir Sorgen um Polterer.«
Frost-auf-den-Weiden warf ihr einen ängstlichen Blick zu. »Glaubst du, dass man mit diesem Kind Mitleid haben sollte? Es ist ein mordender Waldgeist, der sich als Junge verkleidet hat!« »Aber…« Zaunkönig schaute wieder zu Polterer hinüber. »Er hat doch die Augen eines kleinen Jungen, Großmutter.«
»Du siehst nicht genau hin, Mädchen. Wie ein Hund, der sein eigenes Spiegelbild in einem Teich anbellt, siehst auch du nur den äußeren Schein. Blicke tiefer. Suche die Fische, die unter der Oberfläche schwimmen. Das ist der Weg zur Weisheit.«
Zaunkönig spielte mit den Schnüren ihrer Mokassins und dachte über das nach, was Onkel Blauer Rabe vorhin gesagt hatte. Wie konnte Springender Dachs das Buntfelsendorf überhaupt angreifen, wenn Polterer wirklich so große Macht besaß?
»Großmutter? Glaubst du, dass der Junge - das Falschgesicht - fliegen kann? Siebenstern hat ihn den Verstoßenen genannt und behauptet, er sei unter das Dach geflogen, nachdem er Weißer Reiher getötet hat. Ich weiß, dass manche Leute der Meinung sind, der Verstoßene sei nur ein alter Mann, der hoch droben im Norden lebt, aber wenn er wirklich ein Geist ist, dann frage ich mich …«
»Schh! Blauer Rabe hat eine Hand erhoben. Hör zu, was dein Ältester zu sagen hat und verstricke dich nicht in die närrischen Gedanken eines kleinen Mädchens.«
Zaunkönig klappte den Mund zu und dachte über den Verstoßenen nach. Sie hatte die Geschichte schon dutzende Male gehört. Von dem jungen Mann, der die Ehefrau seines Bruders so sehr begehrte, dass er seinen Bruder tötete, um sie zu bekommen. Die verzweifelte Frau beging aus Kummer Selbstmord, und der junge Mann, überwältigt von Schuldgefühlen, ertränkte sich. Als seine Seele in der Welt-über-dem-Himmel ankam, verwehrten ihm die Nachtwanderer den Zutritt. Windmutter selbst stieß ihn in ein Loch im Himmel, durch das er taumelnd auf die Erde herabstürzte. Doch während des Sturzes wuchsen dem verstoßenen jungen Mann Flügel. Er wurde zu einem heimatlosen Waldgeist, der fortan einsam von Ort zu Ort flatterte, von allen anderen Lebewesen gemieden. Könnte der Verstoßene derselbe Waldgeist sein, der Polterer gezeugt hatte? Irgendwo hatte sie das einmal gehört. Vielleicht von Springender Dachs.
Blauer Rabe sagte zu Eistaucher: »Viele Winter lang habe ich an Moosschnabels Seite gekämpft. Und er hat mir mehr als einmal das Leben gerettet.« Er machte eine Pause und setzte dann hinzu: »Und mehr als einmal habe ich das seine gerettet. Ich kann einfach nicht glauben, dass er diese Streiterei gutheißen würde. Er hat sein Leben aufs Spiel
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