Vulkanpark
immer seine Wahrheitsliebe beteuert? Seinen Hang zu absoluter
Ehrlichkeit? Wie war das in Einklang zu bringen mit solch einer monströsen Tat?
Andererseits
wusste sie, dass gerade solche Tätertypen alles taten, um ihre wahre Identität
zu verschleiern und hinter der Maske des Wohlanständigen zu verbergen.
Und was
war mit seinen ausgefallenen sexuellen Wünschen? Sie mochte nicht darüber
nachdenken. Und schon gar nicht darüber, dass sie diesen Wahnsinns-Kick, für
den sie sich insgeheim schämte, auch noch genossen hatte.
Sie
wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Ihr Brustkorb fühlte sich eng an, und
ihr Hirn versuchte, aus seiner Widersprüchlichkeit schlau zu werden. In ihr
festigte sich eine Mischung aus Zuneigung und Ablehnung.
Immer
wieder aufs Neue versuchte sie, die Begegnungen mit ihm auf eine verborgene Wahrheit
abzuklopfen. Benjamin wusste, wie man mit Frauen umging. Von ihm ging etwas
Magisches aus, man fühlte sich gleich in seinen Bann gezogen. Sie hatte
geglaubt, er bringe seine Gefühle zum Ausdruck, dass er sie liebte. Seine Art,
seine Emotionen auszudrücken, war ihr manchmal etwas übertrieben vorgekommen.
Dennoch hatte sie ihn für seine intensive Art, fühlen zu können, bewundert und
sich darauf eingelassen. Sie hatte diese Stunden, in denen sie zusammen waren,
sehr intensiv erlebt.
Und
dann erinnerte sie sich an Momente, da war er sehr weit weg gewesen. In seine
Augen war ein harter Glanz getreten, und sie hatte das Gefühl gehabt, dass er
nicht bei ihr war, sondern wo ganz anders. In einem Bereich, zu dem sie keinen
Zutritt hatte. Vielleicht war er nur in ebendiesen Augenblicken authentisch
gewesen.
Was,
wenn es doch dieses andere Ich gab, das er vor ihr verborgen gehalten hatte?
War es
nicht so: Wenn man jemanden liebte, machte man sich ein Bild. Man projizierte
alles Positive hinein. Das Negative ließ man außen vor. Zumindest in der ersten
Verliebtheit. Doch kein Mensch ist nur gut. Oder nur böse. Die Zeit, dies
herauszufinden, hatten sie nicht gehabt. Die Zeitspanne des Kennenlernens war
zu kurz gewesen.
War ihr
etwas Negatives an ihm aufgefallen? Hatte sie etwas übersehen? Aber da war nur
dieser nette gut aussehende Mann, der charmant und liebevoll war. Der sie sein
ließ, wie sie war, und der ihre Wünsche respektierte.
Sie
wälzte die Gedanken hin und her. Nichts passte mehr zusammen. Hatte ihre Wahrnehmung
sich so getrübt? Hatte sie sich wirklich in einen Mörder verliebt?
Langsam
zog sie sich an. Dann ging sie hinüber ins Wohnzimmer. Ben war weggefahren.
Wohin, wusste sie nicht. Aber vielleicht war das ihre Chance, die Dinge zu
klären.
Ob er
etwas ahnte? Ob er deswegen weggefahren war? Kurz entschlossen wählte sie
Davids Direktdurchwahl im Krankenhaus. Ihr früherer Mann war sofort am Telefon.
Obwohl sie geschieden waren, war er immer noch so etwas wie ein Freund für sie,
dem sie nicht alles, aber doch einiges anvertrauen konnte. Sie sah ihn vor
sich, wie er dastand, eine Autoritätsperson im weißen, offenen Kittel, mit dem
Telefon in der Hand, sich auf das Gespräch konzentrierend.
»David.
Ich muss dich in einer dringenden Angelegenheit sprechen«, sagte sie.
»Ist
was mit Georgina?« Die Stimme ihres Exmannes klang besorgt.
»Nein.
Es geht um einen Rettungssanitäter. Sein Name ist Benjamin Jacobs. Kennst du
ihn zufällig?«
»Benjamin
Jacobs, warte mal. Doch, ja, ich glaub, ich weiß, wer das ist. Warum, was ist
mit ihm?«
»Das
würde ich gern persönlich mit dir besprechen. Hast du ein halbes Stündchen für
mich?«
»Hm,
Franca. Das ist ganz schlecht. Wir haben … «
»Bitte,
David. Es ist wirklich sehr wichtig.«
Sie
hatte immer auf sein kritisches Urteilsvermögen vertraut, auf seinen gesunden
Menschenverstand. Sie war sicher, nach dem Gespräch mit ihm würde sie klarer
sehen.
»Also
ich kann frühestens in einer Stunde.«
»Das
wäre super.«
»Okay,
dann komm vorbei. Hier in der Cafeteria?«
»Lieber
im Park, wo keiner zuhören kann.«
Er saß bereits auf einer der
Bänke, als sie kam, und sah ihr erwartungsvoll entgegen. Seine dunkle Haut
leuchtete unter dem weißen Hemd. Er trug auch eine weiße Klinikhose. Der Park
gehörte zum Klinikum Johannishof.
David
stand auf und umarmte sie freundschaftlich. »Jetzt bin ich aber gespannt.«
Sie
seufzte. »Ja, wo fang ich an?« Sie wusste, dass sie sich auf die
Verschwiegenheit ihres früheren Mannes verlassen konnte. Zunächst begann sie
von dem toten Kind zu erzählen und ihrer
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