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Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pavel und Ich
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sie einen fanden, war voll mit einer Familie aus
Pommern. Schwerer östlicher Dialekt und Großvaters Taschentuch ganz nass von
seinem Tuberkulosehusten. Als Sonja den Koffer auf die Gepäckablage wuchtete,
fasste Franzi sie beim Handgelenk.
    »Ich werde
niemandem etwas sagen«, versprach sie inbrünstig. »Dass du in meiner Wohnung
bist, meine ich. Versprochen. Wir Frauen müssen zusammenhalten.«
    Sie
drückte und küsste sie, als wären sie ein Leben lang Freundinnen gewesen.
    Sonja
wusste nicht, ob sie sich von Franzis Gefühlsanfall rühren lassen oder ob sie
ihn als ein weiteres Indiz einer Existenz sehen sollte, die so bar jeder
Zärtlichkeit war, dass man sich seine Gefühle gegen alle Wirklichkeit erfinden
musste. Beim letzten Pfeifen verließ sie den Zug und sah vom Bahnsteig aus zu,
wie er den Bahnhof verließ. Dann ging sie zurück zur Wohnung, wobei sie erst
einmal daran vorbeilief und an der nächsten Ecke umkehrte. Von einem Verfolger
war nichts zu sehen. Ihr Gesicht und ihre Hände waren so kalt, dass sie zu
brennen schienen.
    In der
Wohnung wartete der Junge. Er stand steif neben dem Küchentisch. Auf dem Tisch,
nahe bei seinen Händen, lag die Pistole. Schwarze Ringe der Erschöpfung
umkränzten Anders' Augen.
    »Belle«,
sagte er. »Die Frau hat Sie Belle genannt.«
    »Das war
einmal mein Name. Für eine kurze Weile.«
    »Sie waren
Boyds Frau.«
    »Ja, das
war ich.«
    »Haben Sie
ihn umgebracht?«
    »Nein.«
Sie schüttelte den Kopf. »Aber er war mir nie wichtig.«
    Der Junge überdachte das. Er kaute auf seiner Lippe. »Das
ist schon in Ordnung«, sagte er. »Ich habe ihn auch nie gemocht.«
    Er schob
die Pistole in die Tasche, setzte sich auf einen Stuhl und kroch tiefer in
seinen Mantel. Sonja konnte sehen, dass er schweres Fieber hatte.
    »Und was
jetzt? Gehen wir und befreien Pavel?«
    Wie zur
Antwort holte Sonja die Mikrofilmrolle aus der Tasche, zog gut zehn Zentimeter
Film daraus hervor und hielt den schmalen Streifen gegen das Licht der
Küchenlampe. Beide studierten den Film mehrere Minuten lang und gingen dabei
näher und näher heran, bis ihre Augen nur noch Zentimeter von der Glühbirne
entfernt waren. Es war unmöglich, etwas zu erkennen.
    »Wir
müssen herausfinden, was auf dem Film ist.«
    »Warum?
Warum tauschen wir ihn nicht einfach gegen Pavel ein?«
    »Weil
Fosko uns umbringt, sobald er den Film hat. Wir brauchen jemanden, der uns
hilft. Und dafür müssen wir wissen, was auf dem Film ist.«
    Sie fragte
sich, ob sie das selbst glaubte: dass Wissen ihnen den Weg aus diesem
Durcheinander weisen konnte. Vielleicht war sie nur gierig. Vielleicht war es
so, dass sie nicht beides haben konnte: ihr Leben und Pavel. Dann würde ich das Leben wählen, dachte sie bitter. Aber sie war
noch nicht so weit, das auch vor dem Jungen zuzugeben.
    »Was
werden wir also tun?«
    »Wir
brauchen einen Projektor. Damit wir etwas erkennen können.«
    »Wie im
Kino?«
    »Ja, aber
in einer anderen Größe.«
    Sie
überlegte, ob sie die Amerikaner um Hilfe bitten sollte, irgendeinen Offizier,
der ihr während ihrer Zeit bei Boyd begegnet war, entschied sich aber dagegen.
Das wäre ein zu großes Risiko. Die Army würde den Film wahrscheinlich
konfiszieren und sie zum Teufel jagen.
    »Glaubst
du, ich kann so was auf dem Schwarzmarkt bekommen?«, fragte sie.
    Der Junge
zuckte mit den Schultern und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
    »Ich kann
es probieren«, sagte er.
    »Du bist
krank.«
    »Ich bin
nicht krank.«
    »Du bist
krank. Sag mir, wohin ich gehen muss, und ich tue es.«
    »Aber ich
bin nicht krank.«
    Schmollend
sah er sie aus zusammengekniffenen Augen an. Minuten später schlief er ein. Es
war, als hätte jemand in ihn hineingelangt und ihn ausgeschaltet. Er wachte
nicht auf, als sie ihn hinüber zum Bett trug und mit sämtlichen Decken
zudeckte. Sonja hielt eine Weile seine Hand, während er schlief, ließ sie dann
los und kehrte dem Jungen den Rücken zu. Der Affe sah ihr von unter dem Sofa
aus zu.
    »Das fehlt
mir noch«, sagte sie zu sich und suchte nach etwas Alkohol, »das Kindermädchen
für einen Straßenjungen spielen zu müssen.« Im Küchenschrank stand eine halbe
Flasche Kirschlikör. Sie trank ihn aus einem fingerhutgroßen Schnapsglas und
zählte die Blumen auf der Tapete. Endlich fiel auch sie in Schlaf und wachte
erst wieder auf, als der Ofen keinen Brennstoff mehr hatte und die
Raumtemperatur um weitere zwei oder drei Grad gefallen war. Ihre Wange fühlte
sich so hart an wie

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