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Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pavel und Ich
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der Tisch, auf dem sie gelegen hatte. Sonja suchte herum
und fand etwas Feuerholz unter der Spüle. Sie brauchte mehrere Minuten, um das
Feuer neu zu entfachen. Als es brannte, setzte sie sich vor den Ofen, drückte
die Hände auf das Metall und zitterte. Nasser Rauch kringelte aus der offenen
Ofentür und trieb ihr das Wasser in die Augen. Bald darauf wurde ihr bewusst,
dass sie weinte. Diese Wohnung erinnerte sie an das, wovor sie geflüchtet war,
als der Colonel sich ihrer angenommen hatte. Sie war zur Hure geworden, hatte
sich ihren Unterhalt mit Mund und Schoß verdient, aber das hier war schlimmer.
Frierend in diesem schäbigen Raum zu hocken, und in ihrem Magen brannte
billiger Kirsch. Die Schmach der Armut. Der Junge stöhnte in seinen Träumen,
und sie fuhr ihn hinter vorgehaltener Hand an, still zu sein. Die Tränen
wollten nicht aufhören, und sie weinte sich zurück in den Schlaf, eingerollt
neben dem Ofen liegend. Im Schatten erwachte der Affe zum Leben, entschied
sich für die Wärme ihrer Nähe und durchsuchte sein Fell nach Parasiten. Einmal,
spät am Nachmittag, beugte er sich tief über ihr Gesicht, zog die Lippen zurück
und ließ seine gelben Zähne sehen.
    Je
nachdem, wie man es sah, war er entweder drauf und dran, sie zu küssen oder ihr
ein Ohr abzubeißen.
     
    Die Polizei hatte die Leiche des
Beschatters im Morgengrauen gefunden, in einer Seitengasse des amerikanischen
Sektors. Der Tote hatte keine Papiere bei sich, und sein Gesicht war übel zugerichtet.
Es gab keine Möglichkeit, ihn zu identifizieren, und so brachten sie ihn fürs
Erste in die Leichenhalle. Eine Stunde später erreichte sie ein Rundruf, die
gesamte Stadtpolizei habe alle »Fälle gewaltsamen Todes« einem gewissen General
Karpow zu melden. Natürlich kam der Dienst habende Beamte der Aufforderung
nach. Um zehn brachte ein russisches Spurensicherungsteam die Leiche in ein
Labor in Friedrichshain, zusammen mit zwei weiteren Mordopfern, die an diesem
Morgen entdeckt worden waren: einem dicken Jugendlichen und einem ausgezehrten
Mann mit einer SS-Tätowierung, die seine Blutgruppe bezeichnete. Die
Laborleute verglichen die Zähne der Toten mit den Informationen, die Karpow
geschickt hatte, dann die Ohren mit einem morphologischen Diagramm. Beim Mann
ohne Gesicht stimmte alles perfekt überein: Es war Sergej Semjonowitsch
Nechljudow, sechsunddreißig, Spezialadjutant von General Dmitri Stepanowitsch
Karpow. Das Foto in den Akten zeigte einen melancholischen Mann mit dunklem
Haar und rotgeränderten Augen. Sie hatten ihn nicht aufgeschnitten, um seine
Leber zu untersuchen, aber dem Aderngewirr auf Nase und Backen nach zu urteilen,
das auf dem Foto zu erkennen war, hatte der Mann gern und ausgiebig dem Alkohol
zugesprochen.
    Ein
Laborassistent informierte das Büro des Generals. Ein Sekretär ging ans
Telefon.
    »Die
Körperbeschreibung trifft zu.«
    »Sie
meinen, Sergej Semjonowitsch ist tot? Wie ist er umgekommen?«
    »Durch
einen Messerstich in die Brust.«
    »Danke,
Genosse. Ich werde den General informieren.«
     
    All das geschah am ersten
Weihnachtstag 1946, als Pavel und ich noch nicht einmal miteinander redeten.
Ein Dutzend Zigaretten lag ausgetreten auf dem Boden des Kellers, und ich
wusste nichts von Sonjas Flucht und der deprimierenden Arbeit des Pathologen.
Ich fand das alles erst später heraus, durch hartnäckiges Nachfragen und das
Lesen steinerner Gesichter. Da hatten wir bereits 1947, und es roch nach
Frühling. Man hätte denken können, der Frühling würde es auftauen, unser
Berlin, aber die Stadt blieb kalt und hart, eine Medea mit Bauchschuss, so
hockte sie auf dem Grab ihrer Kinder.
     
    26. Dezember 1946
     
    D as Fieber
des Jungen war über Nacht zurückgegangen, aber es ging ihm immer noch zu
schlecht, um die Wohnung zu verlassen. Sie machte ihm klar, dass sie heute zum
Schwarzmarkt gehen würde. Er könne ihr raten, an wen sie sich wenden solle,
oder es auch lassen, sie werde auf jeden Fall gehen. Er hielt eine halbe Stunde
aus, während der sie Pavels Namen bewusst ein halbes Dutzend Mal erwähnte, dann
gab er nach.
    »Paulchen«,
sagte er. »Sie könnten es bei Paulchen versuchen.« Er gab ihr eine Adresse im
englischen Sektor. »Was soll ich ihm sagen?«
    »Geben Sie
ihm die hier und sagen Sie ihm, es tut mir leid.« Er gab ihr die Pistole. »Wenn
irgendwer so einen Projektor auftreiben kann, dann er. Und zwar unbemerkt.«
    Sie
nickte, suchte nach einer Schere und schnitt ein paar Zentimeter

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