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Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pavel und Ich
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entlockte sie ihm
seine Geschichte. Dabei kam heraus, dass er wohl tatsächlich aus keiner
jüdischen Familie stammte. Es schien so, als wäre sein Vater 1933 verschwunden,
kurz nach Anders' Geburt, was darauf hindeutete, dass er Sozialist gewesen
war. Die Roten wurden als Erste verhaftet. Die Juden verschwanden erst später,
zusammen mit den Zigeunern, den Zeugen Jehovas und Männern, die sich für andere
Männer interessierten.
    Anders wusste
rein gar nichts über seinen Vater. Das Einzige, was er hatte, war ein Name:
Herbert. Auch an eine Mutter konnte sich der Junge nicht erinnern, nur an ein
gerahmtes Foto neben dem Bett, auf dem eine Schönheit mit Grübchen zu sehen
gewesen war. Er wuchs bei seinem Onkel Richard in einer Zweizimmerwohnung im
Wedding auf.
    Als der
Krieg begann, war Anders sechs Jahre alt. Die Lehrpläne der Schulen waren
längst auf arische Werte ausgerichtet, und ein neues Gesetz machte die
Mitgliedschaft in der Hitlerjugend vom zehnten Lebensjahr an zur Pflicht. Es
hatte den Anschein, dass Onkel Richard keinerlei Wunsch verspürte, seinen
Neffen mit Nazi-Ideologien indoktriniert zu sehen. Sie zogen aus ihrer Wohnung
aus und fanden Unterschlupf in einer heruntergekommenen Villa am Müggelsee,
ganz im Osten Berlins. Die Villa gehörte Richards exzentrischer Schwiegermutter
Marlene, deren Tochter, Richards Frau, ihn vor Jahren verlassen hatte und nach
Argentinien ausgewandert war. Gelegentlich schickte sie Geld und einmal auch,
in einem gut gepolsterten Paket, eine original Bola, jene dreileinige
Wurfwaffe, mit der die Gauchos ihr Vieh fingen. Anders konnte diese Bola bis in
beachtliche Einzelheiten beschreiben.
    Mutter
Marlene war ein echtes Unikum. Sie lebte in der aufgeblähten Erinnerung einer
Theaterkarriere auf den Bühnen Münchens, Bayreuths und Wiens. Richard vertraute
ihr seinen Neffen an und legte ihr seine Erziehung ans Herz. Sie brachte ihm
bei, wie man Zigaretten drehte, Karten spielte (und dabei betrog) und Rouge auflegte.
Den Großteil des Tages saßen sie vor dem Radio, Rouge auf den Wangen, Asse im
Ärmel und eine Selbstgedrehte zwischen den Lippen. Marlene mochte Kultursendungen,
besonders Hörspiele. Manchmal rezitierten sie gemeinsam ganze Monologe, zuerst
sie, dann Anders, der ihren Tonfall genau nachahmte. Beide liebten historische
Stücke, am liebsten Goethes Iphigenie auf
Tauris: Marlene gab eine gemeine Furie, und Anders konnte sich
immer noch an Dialogfetzen von Orest erinnern. Zu Mittag schnitten sie Brot und
toasteten es auf der heißen Herdplatte, bis es schwarz und in Ruß gehüllt war.
Dann: ein Löffel Butter, die langsam in die verbrannte Scheibe einzog, und das
kraftvolle Reiben einer geschälten Knoblauchzehe entlang des Randes. Manchmal
gab es auch etwas Suppe, Erbsen oder Linsen, geadelt durch Stücke
Räucherschinken oder Würstchen. Wenn das Radio zu eintönig wurde, spielte
Anders im überwucherten Garten hinter dem Haus. Er durfte das Grundstück nicht
verlassen, zog an manchen Nachmittagen aber dennoch los, um die Nachbarschaft
zu erkunden. Richard kam abends erst spät, wie erschlagen von der Arbeit in der
Fabrik, mit zwei Flaschen Bier unter dem Arm nach Hause. Anders wusste nicht
zu sagen, was für einer Arbeit er nachgegangen war, meinte aber, er habe nach
Schmiermittel und Benzin gerochen. Im Sommer fuhren sie an den Wochenenden mit
dem Bus hinaus in den Wald und sammelten Pilze in einem Weidenkorb. Im Winter
bauten sie hinten im Garten Schneemänner, mit Steinen als Knöpfen und einem
Lächeln aus brüchigen Zweigen.
    Gegen Ende
des Kriegs hieß es, der Sieg stehe kurz bevor, und Richard wurde eingezogen und
an die Front geschickt. Bis dahin hatte er als zu alt gegolten. Er schrieb
Briefe, die Marlene dem Jungen in schnellen deklamatorischen Brocken vorlas.
Dann kamen keine Briefe mehr, und Onkel Richard verschwand aus Anders' Leben.
    Die alte
Dame sollte ihm bald folgen. Eines Nachmittags, Anfang Mai '45, kam Anders von
einem Ausflug nach Berlin zurück und fand das Haus in Flammen vor. Vielleicht
hatte Marlene vergessen, die Herdplatte abzustellen, nachdem sie ihr Brot
getoastet hatte, oder die verrottenden Kabel der Villa hatten die Sicherungen
ausgetrickst und Funken geschlagen. Das Haus war so voller Papier und
Krimskrams, dass es wie Zunder brannte. Kein Körper konnte aus seinen
rauchenden Fundamenten geborgen werden. Die alte Dame musste sich in sich
selbst eingerollt haben und zu Asche zerfallen sein.
     
    In den
nachfolgenden Monaten

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