Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pavel und Ich
Vom Netzwerk:
sie kannten sie bereits, wie die von den
dreizehn Jungen, die Ende April '45 in der Schulhoftoilette gestanden und sich
eine Zigarette geteilt hatten.
    »Gebt mir
noch eine Woche«, hatte einer von ihnen angegeben, »dann habe ich Gretchen
endlich so weit. Noch eine Woche«, schwor er, »und die spreizt die Beine wie
zum Spagat.«
    »Alles
klar«, sagten seine Freunde, »und Hitler führt uns zum Endsieg.«
    Alle lachten.
Ein Lehrer, der in diesem Moment an der Toilette vorbeikam, hörte sie. Es war
der pure Zufall, aber er hörte alles, den Witz und das Gelächter. Der Lehrer
war einer von den Hundertfünfzigprozentigen, einer von denen, die schon vor '33
mit dem Parteiabzeichen herumgelaufen waren. Er machte einen Telefonanruf, und
schon war die Gestapo da. Sie brauchten nicht einmal ein Auto, ihr
Hauptquartier lag nur zwei Straßen entfernt. Es heißt, sie hätten die Jungen im
Hof zusammengetrieben und sie zurück in die Toilette gebracht. Da mussten sie
sich in einer Reihe vor der Pinkelrinne aufstellen, mit dem Gesicht zur Wand,
und so wurden sie erschossen, einer nach dem anderen, mit einem Schuss in den
Kopf. Hingerichtet wegen Hochverrats und »Demoralisierung des deutschen
Volks«. Dreizehn Tote, am Vormittag des 28. April, als es fast keine Munition
mehr gab bei den Deutschen, die Russkis freilich hatten noch reichlich und
Mörser so groß wie Gottes Faust. Am 30. April beging Hitler Selbstmord. Einige
meinten, mit Gift, andere sagten, er habe sich eine Kugel ins Herz geschossen.
Ganz egal, dreizehn Jungen waren umgebracht worden, in der verdammten Toilette.
    »Ich
schwör's euch«, sagte einer von den Karlsons. »Ich hab's selbst gesehen. Ich
hab gesehen, wie sie die Leichen hinausgetragen haben.«
    Es gab
auch andere Geschichten, neuere. Geschichten über die Russen, die in ihrem
Sektor jeden deutschen Wissenschaftler und Ingenieur ausfindig machten. Sie
kamen in seine Wohnung, während er bei der Arbeit war, packten seine Habseligkeiten
in einen Lastwagen, zusammen mit Frau und Kind, und dann warteten sie in der
leeren Wohnung auf ihn, nur mit einem Hocker und einem kleinen hölzernen Tisch
in der Mitte des Wohnzimmers, darauf ein Stück Papier, auf dem stand, dass er
höflichst darum bitte, zum Arbeitseinsatz in die geschätzte Union der Sozialistischen
Sowjetrepubliken überführt zu werden.
    »Und das
unterschreibt er dann?«, fragte einer der Jungen ungläubig.
    »Seine
Frau und sein Kind sitzen bereits im Lastwagen«, erinnerte ihn Paulchen. »Ein
Mann muss seiner Pflicht folgen.«
    Dann gab
es noch eine Geschichte über das Kinderkrankenhaus ein Stück die Straße
hinunter, dass dort jeden Morgen ein Transporter vor dem Tor hielt und die
Babys einlud, die über Nacht gestorben waren. Wie es hieß, wurden die Babys in
Pappkartons gepackt, weil es nicht genug Holz gäbe, und in einem Lagerhaus
irgendwo in Zehlendorf aufbewahrt, bis der Boden wieder weich genug wäre, um
sie zu begraben. Oder die Geschichte über den Mann, den sie »den Schlachter«
nannten. Er versprach Kindern Süßigkeiten, nahm sie mit nach Hause und
verkaufte ihr Fleisch kiloweise. Offenbar trug er einen weißen Anzug und hatte
einen Gehstock mit silberner Spitze.
    »Wahrscheinlich
noch so ein Pe-di-rast.«
    Dann gab
es noch Geschichten, die nie erzählt wurden, weil sie zu schrecklich waren,
oder zu persönlich. Anders kannte gleich ein paar, und er wusste, dass es den
meisten anderen genauso ging. Einmal hatte Schlo' versucht, ihm von einem
riesigen Gefängnis weit weg in Polen zu erzählen, wo alle wie Leichen aussahen.
Er zeigte ihm die Tätowierung auf seinem Unterarm und erzählte ihm, dass sie da
Leute verbrannten. »Die Schornsteine rauchen Tag und Nacht«, sagte er
weinerlich und mit großen Augen. »Und der Rauch kommt von Menschen.«
    Anders
hatte gedacht, dass Schlo' nur Mist erzählte. »Schornsteine mit Menschenqualm,
wie?« Es war wichtig, nicht gleich alles zu glauben, was man so zu hören bekam.
    Endlich,
nach einer letzten Zigarette, legten sich die Jungen schlafen. Früh am nächsten
Morgen wachte Anders auf, weil Schlo' weinte. Nachdem er sich vergewissert
hatte, dass keiner der anderen Jungen wach war und ihn dabei sehen konnte,
legte er sich neben Schlo' und wiegte ihn in den Armen, bis der Kleine wieder
einschlief. Als es endlich dämmerte, half er Paulchen mit dem Frühstück und
machte sich anschließend auf zu Pavel.
    Er wollte
ihm erzählen, dass der fette Mann es mit kleinen Jungen trieb.
     
    Sonja

Weitere Kostenlose Bücher