Vyleta, Dan
hätte er in letzter Zeit nicht gut geschlafen. Anders
bekam nur eine zerdrückte Pfirsichhälfte, Paulchen spießte sie mit seinem
Messer auf und ließ sie ihm direkt in die Hand plumpsen. Das Zuckerwasser
klebte ihm anschließend noch lange auf der Haut. Anders beklagte sich nicht
über die ungleiche Verteilung. Er war in letzter Zeit nicht viel da gewesen,
und Paulchen belohnte Treue ebenso wie den herangeschafften Profit. Um seinen
guten Willen zu zeigen, meldete sich Anders freiwillig für den Abwasch. Dazu
musste er Wasser von der Pumpe zwei Straßen weiter holen. Als er zurückkam, war
das Wasser bereits halb gefroren. Nach dem Abwasch setzte er sich zu den
anderen in Paulchens Schlafzimmer. An der Wand klebte ein aus einer Zeitschrift
herausgeschnittenes amerikanisches Pin-up in schwarzer Unterwäsche. Sie
rauchten und sprachen über die Ausbeute des Tages und die Pläne für die nächste
Woche. Das Gerücht ging um, dass heute noch ein Flüchtlingszug aus dem Osten
eintreffen werde, oder früh am nächsten Morgen. Paulchen kommandierte zwei
Jungen ab, um auf ihn zu warten. Flüchtlinge bedeuteten Arbeit: Sie stiegen
aus dem Zug und brauchten Essen, ein Dach über dem Kopf und etwas Feuerholz.
Die meisten von ihnen waren sicher zu arm, um viel bei sich zu haben, ein paar
Wertsachen würden sich unter den Besitztümern aber schon finden.
»Nehmt sie
nicht zu übel aus«, warnte Paulchen die Jungen.
»Das sind gute Leute, die von den
Russen verjagt wurden.« Paulchen gab viel auf seinen Patriotismus.
So
beiläufig wie nur möglich brachte Anders das Gespräch auf den Colonel. Er
sagte, dass er ihn in einem Nerzmantel aus einem Gebäude hätte kommen sehen.
»Ein fetter Mann in einem Frauenpelz. Den Kerl sollten wir ausnehmen, der
Mantel ist sicher wahnsinnig was wert.«
Paulchen
unterbrach ihn und sagte, der Mann sei tabu. »Das ist ein Tommy. Ein General
oder so was. Im Übrigen heißt es, dass er eine Schwuchtel ist.«
»Eine
was?«
»Eine
Schwuchtel.«
»Und was
ist das?«
»Jemand, der kleine Jungs wie dich vögelt.«
»Jungs vögelt? Wie?«
»Wie meinst du das, wie? Er vögelt
sie.« Alle saßen schweigend da und gingen im Geiste die Sache durch.
»Das kann
nicht sein«, widersprach ihm Anders schließlich. »Er vögelt diese Frau. Ich hab
gehört, wie er's getan hat. Ich schwör's.«
Paulchen schien nicht weiter beeindruckt. »Diese Pe-di-rasten«, sagte er wissend, »die vögeln alles,
was sich bewegt.«
»Vergast
sollten sie werden«, erklärte er ihnen. »Zusammengetrieben und vergast.«
Der
stille, kleine Schlo' saß am Rand und fing an zu weinen. Er war schon immer
eine richtige Heulsuse gewesen.
Anders
steckte sich noch eine Zigarette an und beschloss, für den Rest des Tages zu
bleiben.
In jener Zeit gab es viele solcher
Gerüchte um den Colonel. Ich hörte sie, wenn ich in Kneipen oder Bars etwas
trank, wobei ich natürlich immer aufpasste, mein genaues Verhältnis zu ihm im
Dunkeln zu halten. Der Colonel, hörte ich da, sei homosexuell, ein russischer
Spion, ein Naziagent, der schon 1933 den britischen Geheimdienst infiltriert
habe und nach Untergang des Reichs einfach dabeigeblieben sei. Dann wieder
erzählte man mir, er sei ein italienischer Adliger, ein »di Fosco«, den Mussolini
ausgebürgert habe. Sein Geld stamme aus Pferdewetten, Bank- und
Immobiliengeschäften. Einmal schwor mir ein alter französischer Journalist, er
habe vor dem Krieg mit Fosko und einer Frau in Monte Carlo am Roulettetisch
gesessen. »Er war gerade aus Spanien zurück, wo er für Franco gekämpft hatte«,
vertraute mir der Franzose an und ließ sich nicht davon abbringen. Eine
deutsche Puffmutter erzählte mir die Geschichte, dass sie ihm sein Geld hätte
zurückzahlen müssen, weil keines ihrer Mädchen seinen Appetit habe befriedigen
können, und ein irischer Seemann, Gott allein weiß, was der in Berlin wollte,
ein irischer Seemann also spielte mir seine fünf dramatischen Runden im Ring
mit ihm vor. »Mit bloßen Fäusten, mein Junge«, sang er mit seinem
schnapsgeölten irischen Akzent. »Der Mistkerl ist so fett, wenn der zu Boden
geht, springt er gleich wieder hoch wie 'n verfluchter Gummiball.«
»Haben Sie
gewonnen?«, fragte ich ihn, aber der Seemann zuckte nur mit den Schultern.
»Jetzt, wo
ich so darüber nachdenke, war das mein Cousin, der da mit ihm geboxt hat.«
Es ist
unmöglich zu sagen, woher all diese Geschichten kamen, und ich habe mich oft
gefragt, ob es vielleicht der Colonel
Weitere Kostenlose Bücher