Vyleta, Dan
sah aus einem ihrer vorderen
Fenster, wie Pavel das Haus verließ, eine einsame Gestalt, der Körper geduckt,
den Schmerzen in seinen Nieren lauschend. Jetzt machte auch sie sich zum Gehen
fertig. Sie wollte dem Colonel nicht begegnen. Anfangs waren ihre Schritte ohne
Ziel. Sie ging die Straßen des Viertels hinunter, kam an den langen Schlangen
vor den Geschäften vorbei und spürte die neidischen Blicke auf ihrem teuren
Mantel. Auf dem Sophie-Charlotte-Platz reichte eine Schar Schulmädchen einen
Zigarettenstummel herum, und zwei Arbeiter schafften Trümmer weg. Die Leute
redeten von Weihnachten, und ein Mann ohne Handschuhe versuchte, einen Koffer
voller Christbaumschmuck zu verkaufen. »Bitte«, sagte er zu ihr, »für die
Feier.«
»Ich habe
keinen Baum«, erwiderte sie.
»Dann
bewahren Sie den Schmuck für nächstes Jahr auf.«
Sie zuckte
mit den Schultern und ging schnell weiter.
Bald schon
trieb sie die Kälte unter die Erde. Sie war lange nicht mehr mit der U-Bahn
gefahren, sondern hatte sich die Straßen meist aus der beruhigenden
Perspektive eines Autofensters angesehen. In den Ecken hockten Bettler und
hielten ihr Becher entgegen, in denen nur Knöpfe zu sehen waren. Der Bahnsteig
selbst war voll mit Deutschen und englischen Soldaten. Zwei Verkehrspolizisten
fahndeten nach Schwarzmarkthändlern. Als Sonja in den Zug stieg und drinnen
Eiszapfen an der Decke hängen sah, hätte sie beinahe laut losgelacht. Ein Kind
brach eine der Spitzen ab und lutschte daran. Offenbar schmeckte das Eis aber
komisch, denn das Mädchen verzog das Gesicht und ließ es fallen. Nachdem sich
die Türen geschlossen hatten, wurde die Luft im Waggon schnell schlechter. Es
roch nach ungewaschenen Leuten, schließlich war es zu kalt, um zu baden. Dazu
kamen die Dünste gestörter Verdauung. Eine gebeugte alte Dame neben ihr gab
ihrem inneren Drang nach und sah sie entschuldigend an. »Sie sollten erst
riechen, was ich so esse«, murmelte die Alte. Ihr Atem roch genauso ranzig wie
ihr Furz. Sonja beschloss, an der nächsten Station auszusteigen, doch dann
hörte sie das Gespräch zwischen zwei Engländern auf der anderen Seite des Gangs.
»... kam
heute Morgen herein. Mit mehr als vierzig Toten, wie ich gehört habe, und einem
Dutzend Amputationen.«
»Amputationen?«
»Ja, sie
haben den ganzen Morgen gesägt. Waren einfach abgefroren.«
»Großer
Gott.«
»Wenn die
Krauts Wind davon bekommen, werden sie Blut sehen wollen.«
Sonja
drängte sich durch die Leute und stellte sich zwischen die beiden.
»Gnee-di-guss Frow-leyn«, sagten sie und musterten sie von
Kopf bis Fuß. »Was können wir für Sie tun?«
Der Zug
ruckte, und sie wurde gegen einen der beiden gestoßen. Er fing sie auf und
legte ihr dabei eine Hand auf die Hüfte.
»Vierzig
Tote?«, fragte sie auf Englisch. »Wo?«
»Im
Bahnhof. Ein Flüchtlingszug. Möchten Sie ein paar Zigaretten?«
»Wofür?«
»Ein
bisschen Gesellschaft.«
Sie
versuchte genug Entrüstung in sich heraufzubeschwören, um ihn zu ohrfeigen. Es
ging aber nicht. Sein Gesicht war so rosig wie das eines Chorknaben.
»Heute
nicht«, sagte sie, und er zuckte mit den Schultern und ließ sie los.
»Das ist
aber verdammt schade, mein Schatz«, sagte er gutmütig.
Sie kehrte
ihm den Rücken zu und blieb so stehen, bis sie den Bahnhof Zoo erreichten.
Er marschierte direkt hinein. Das
war der erste Fehler, den Anders machte. Er dachte, Pavel läge noch im Bett,
den Tod seines Freundes betrauernd, oder vielleicht wäre auch die Frau da und
kochte ihm eine Hühnersuppe aus der Dose. Stattdessen stieß er auf den Colonel.
Wie eine übergroße Kröte hockte der Kerl auf dem Boden, die Schenkel spannten
die Uniformhose, und selbst die Stiefel kamen dem Jungen wie aufgedunsen vor,
als wären die Füße in sie eingenäht und versuchten, das Leder zu sprengen. An
der Wand hinter dem fetten Mann lehnte Pavels Matratze, die Schränke waren
geöffnet, und etliche Bücher lagen auf dem Boden verstreut. Der Ofen war aus,
und es war in der Wohnung kaum wärmer als draußen auf der Straße.
»Was
machen Sie hier?«, fragte Anders und suchte dabei Zuflucht in der deutschen
Sprache. Vielleicht konnte er den Tommy ja so aus der Ruhe bringen. Das war
sein zweiter Fehler. Anders hätte sich auf dem Absatz umdrehen und davonlaufen
sollen. Doch er beschloss, dem Colonel die Stirn zu bieten.
»Sie haben
hier nichts zu suchen.«
Der fette
Mann schenkte Anders' Worten keine Beachtung. Seine Augen wanderten zu
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