Vyleta, Dan
das? Mein lieber
Junge, ich habe dich gefragt, ob du das verstehst?«
Anders
krächzte: »Ja.«
»Dann
verschwinde hier.«
Er gab ihm
einen väterlichen Klaps auf den Hintern, und von allen Erniedrigungen war das
für den Jungen die schlimmste. Anders rannte zur Tür und hinunter auf die
Straße. Draußen blieb er vorgebeugt stehen und gab sich alle Mühe, seine Tränen
mit den Händen zu verbergen. Innerhalb von Minuten war ihm kalt bis auf die
Knochen. Ich muss mir einen neuen Mantel
besorgen, dachte er. Sonst erfriere
ich noch. Seine zitternden Beine wollten ihm nicht gehorchen. Zum Bahnhof, sagte er sich, Paulchen hat ein paar von den Jungen zum Bahnhof geschickt. Er
versuchte einen Schritt und taumelte wie ein Betrunkener, einen zweiten,
dritten, vorgebeugt, während das Blut ihm auf der Lippe trocknete. Bald schon
rannte er, ohne auf seine Umgebung zu achten. Er stieß gegen Verkäufer,
Soldaten, Laternen und sah doch kein einziges Mal auf. Vor allem mied er die
Schaufensterscheiben. Er hatte das Gefühl, nie wieder sein Spiegelbild
betrachten zu können, ohne gleichzeitig den Colonel zu sehen, wie er ihm anzüglich
über die Schulter blickte.
Als er den
Bahnhof erreichte, war der Urin in seiner Hose zu einem steifen Flecken
zwischen den Beinen gefroren.
Am Bahnhof Zoo herrschte Aufruhr.
Man konnte die wütende Menge schon von Weitem sehen. Die Leute standen auf dem
Platz vor dem Bahnhof und gestikulierten wild durch die Luft. »Sie versuchen,
uns umzubringen«, hörte sie einen Mann rufen. »Wegen der Lebensmittelknappheit.
Sie haben nicht genug Brot, um noch zusätzliche Mäuler zu stopfen, also bringen
sie uns um, bevor wir überhaupt herkommen.« Andere um ihn herum riefen, er
solle die Schnauze halten, und zwar sofort.
Im Bahnhof
selbst wurde das Durcheinander nur noch schlimmer. Soldaten bildeten
steifbeinige Reihen, hielten ihre Maschinenpistolen vor sich und blockierten
einen ganzen Bahnsteig. Die Menge stand dicht gedrängt. Menschen, die von der
Nachricht der Katastrophe angezogen worden waren, vermischten sich mit
anderen, die versuchten, die Stadt zu verlassen, übervolle Koffer in Händen.
Ein Dutzend schmutziger Jungen schob sich durch die Menge, verkaufte
Erfrischungen und verbreitete Informationen. »Dreiundfünfzig nach letzter
Zählung«, erklärte ihr einer, als sie ihm eine Zigarette hinhielt.
»Dreiundfünfzig
Tote?«
»Ja, und
einundzwanzig Amputationen. Meist Füße, denke ich. Wollen Sie 'nen Kaffee?«
Sie
schüttelte den Kopf und arbeitete sich bis zum Militärkordon vor.
Sonja
wusste selbst nicht, wonach sie suchte. Sie rechnete halb damit, Tragbahren voller
Menschen zu sehen, deren Beine und Gesichter vom Frost schwarzgebrannt waren,
aber natürlich waren alle längst weggeschafft worden. Ein Berg Koffer türmte
sich auf dem Bahnsteig und war der einzige sichtbare Hinweis darauf, dass ein
Unglück geschehen war. Es erinnerte sie an die Tage nach der Befreiung, als
sich auf den Bürgersteigen ähnliche Haufen gebildet hatten, aufgetürmt von
plündernden Soldaten. Vielleicht, warf sie
sich höhnisch vor, bin ich ja
deswegen hier: um mich an meinen Zorn zu erinnern. Vielleicht habe ich mich
weit genug auf dem Weg vom Opfer zum Täter entlanggestohlen, dass es wieder
reizvoll geworden ist, mir vorzustellen, einer von denen zu sein, die
geschlagen, verletzt und missbraucht werden. Dieses
Verlangen kam ihr gefährlich kindisch vor, und so drehte sie sich auf dem
Absatz um und strebte dem Ausgang zu. Draußen ließ sie den Blick über die
zornige Menge schweifen und sah Anders, der mit gesenktem Kopf dahinrannte und
bei jedem zweiten Schritt in jemanden hineinlief. Er hatte keinen Mantel an.
Ihre erste
Reaktion war, sich vor dem Jungen zu verstecken. Er sah aus, als wäre er in
Schwierigkeiten, und wenn das so war, schien es klüger, ihm aus dem Weg zu
gehen. Aber dann sah er sie auch, und sie hatte nicht das Herz, sich von ihm
abzuwenden und so zu tun, als hätte sie ihn nicht bemerkt. Sie winkte, sah, wie
er zögerte und endlich näher kam. Seine Nase war geschwollen, und auf seiner
Kehle, zwischen Kragen und Schal, waren Zeichen einer Quetschung zu sehen.
»Anders«,
sagte sie und setzte schon dazu an, ihm über den Kopf zu streichen, besann sich
aber eines Besseren. »Was ist mit dir passiert?«
»Nichts«,
sagte er, und seine Lippen zitterten. »Mir ist nur kalt.«
Sie nahm
ihn mit in ein Café voller Ausländer und kaufte ihnen zwei Tassen heiße
Schokolade. Der
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