Vyleta, Dan
Helfer mit Aufträgen losgeschickt, machte
ein paar Anrufe, bestellte verschiedene Unterlagen, und dann entließ er Richter
aus seinen Gedanken. Die Fotos lagen noch immer auf seinem Tisch ausgebreitet.
Karpow studierte sie und fuhr mit dem Handschuh über den Mann im weißen
Laborkittel. Aus der Ferne hätte man es eine Liebkosung nennen können, obwohl
es mir natürlich unmöglich ist, mich dafür zu verbürgen, ich war nicht dabei.
Und doch war es so, diese Berührung, und der Name, der ihm von den schmalen
Lippen fiel. Haldemann.
Wir alle
suchten in jenem Winter '46 nach Haldemann. Es war Karpow, der am Ende dazu
ausersehen war, ihn zu finden.
Sonja hörte ihn die Treppe
heraufkommen. Es war wenige Minuten vor Mitternacht. Natürlich hätte es auch
jemand anders sein können, aber sie war sich sicher, es war Pavel. Die Schritte
hielten eine Etage unter ihr inne. Sonja hörte, wie sich die Tür öffnete und
schloss, stand reglos da und hielt den Atem an. Eigentlich hätte man durch den
Boden gar nichts hören dürfen, es sei denn, er hätte Radau gemacht. Dennoch
glaubte sie, seine ruhigen Schritte auf den Dielen zu vernehmen, die
systematischen Bewegungen, mit denen er den Ofen anfeuerte. Pavel schien
rastlos zu sein. Sie hörte ihn mit unsicheren Schritten im Zimmer auf und ab
gehen. Jetzt griff er nach einem Buch, las eine Seite oder zwei und stellte es
zurück ins Regal. Setzte sich an die Schreibmaschine, tippte Buchstaben,
wahllos, ohne Bedeutung. Die Geräusche drangen so klar an ihr Ohr, dass sie
zusammenfuhr, als sie plötzlich sein Klopfen an ihrer Wohnungstür hörte. Sie
eilte hin, um ihm zu öffnen. Pavel sah gleichzeitig müde und erregt aus. Sonja
versuchte ganz bewusst, nicht den Ton seiner Stimme zu interpretieren.
»Sie sind
noch auf?«, fragte er.
»Ja,
natürlich. Kommen Sie herein. Möchten Sie einen Tee?«
Er nickte
und ließ sich in einen ihrer Lehnsessel sinken. Sie stellte einen Topf Wasser
auf die Kochplatte, zündete ein paar Kerzen an und legte eine Platte auf das
Grammofon. Sonja setzte sich Pavel gegenüber auf ihren Klavierhocker, die
langen Beine übereinandergeschlagen. Ihre Finger glitten über die mit den Jahren
gelb angelaufenen Tasten des Instruments.
»Haben Sie
Belle gefunden?«, fragte sie, nachdem sie ihm seinen Tee eingegossen hatte.
»Ja.«
Er sah sie
mit müden Augen an, vielleicht anklagend, und sie zuckte mit den Schultern,
ohne sich zu entschuldigen. »Ich dachte, es wäre das Beste, wenn Sie es selbst
herausfinden.«
Das
Grammofon stimmte einen Walzer an, was ihr fürchterlich unangemessen vorkam.
Schweigend
saßen sie eine Weile da, und Sonja begann zu glauben, dass er es mochte, dieses
Schweigen, dass er sich darin zurückzog wie eine Schildkröte, die das Wetter
leid war, aber dann fing er plötzlich an zu plappern oder zumindest zu reden:
Er überschwemmte sie mit einer wahren Flut von Worten, und was sie am meisten
überraschte, offenbar war es ihm sehr ernst damit. Hastig sprudelten die Worte
aus ihm heraus, hastig und mit schamlosem Nachdruck. Es war, als wäre er
zufällig über ein Geheimnis gestolpert, das jetzt herausmusste. Er erinnerte
sie an einen Schuljungen.
»Den
ganzen Tag«, sagte er, »denke ich schon an Dostojewski. Natürlich wegen der
Russen. Sie haben mich einkassiert, und der Offizier, der hatte eine Stimme
genau wie mein Großvater. Er schleicht sich in die Sprache, ich meine
Dostojewski. All diese fasts und jedochs: Sie machen es einem unmöglich, auch nur einen
einzigen Gedanken zu Ende zu denken. Und das Drama des Ganzen: Vier Russen in
einem Raum, und keiner von ihnen will etwas sagen, und wenn es dann doch einer
tut, ist es der Jüngste, der Clown, und alles, was aus ihm herauskommt, ist
Luft, heiße Luft, und insgeheim, innerlich sozusagen, müssen sie alle vier
grinsen, weil die Sache so absurd ist, und der Clown schreit: >Du
Schwein!< Mein Großvater, der sagte immer, wir Russen seien gemacht für das
Absurde, gleichsam dazu bestimmt. Es wecke unsere Leidenschaften. Böse, wütende
Worte, und schon eine halbe Stunde später trinken wir mit unseren Feinden, Arm
in Arm.
Aber dann
zeigten sie mir das Foto: Boyds Mund auf einer Ihrer Brüste, und Sie drehen den
Hals, um in die Kamera zu blicken. Und wissen Sie, was ich da sehe? Liebe. Es
ist unmöglich, Sie müssen ihn gehasst haben, bis in Ihr tiefstes Inneres, aber
auf dem Foto, nun, da erkenne ich Liebe. Ein Lächeln in Ihren Augen, körnig,
und Ihr Körper ist ihm
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