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Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pavel und Ich
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eine Kuh) und immer wieder dieser fürchterliche Hunger, wie in einem
Dickens-Roman, und schließlich eine idiotische Kneipenschlägerei, die mit einem
Messerstich in meinen Schenkel endete. Dann: mit dem Schiff nach Amerika, in
einem Alter, in dem die meisten Männer längst ihren Platz im Leben gefunden
hatten, der Magen eine ganze Woche lang in Rebellion, nur um herauszufinden,
dass New York genauso ein Loch war wie mein gebürtiges London. Ein Jahr im
Gefängnis, die Bildung aus Romanen zusammengeschustert. Raskolnikow als Lehrer,
Sam Spade und Captain Hook. Aber keine Sorge: Ich werde Sie mit nichts von
alledem langweilen. Ich wache einsam, ohne Ihr Mitgefühl.
     
    Und noch immer konnte ich nicht
schlafen. Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, sah ich sein Gesicht vor mir,
diese hohlwangigen adligen Züge, die ich, vor langer, langer Zeit, mit Faust
und Fuß hatte aufmischen wollen. Sein Gesicht hielt mich in seinem Bann, und je
länger ich seinen Blick auf mir fühlte, desto mehr verpuffte mein Zorn. Ich
spürte etwas anderes dahinter, das ich nicht benennen konnte. Als die Dämmerung
hinter meinem frostverschleierten Fenster heraufzuziehen begann, wurde mir nach
und nach bewusst, dass ich nicht länger an den Geheimnissen interessiert war,
die ich auf Foskos Geheiß lüften sollte. Soweit ich es beurteilen konnte, sah
der Colonel sowieso einer unehrenhaften Entlassung entgegen, dem
Militärgefängnis, einem Erschießungskommando. Nein, Pavel selbst, der Mensch,
hatte meine Fantasie in Bewegung gesetzt. Vielleicht lag es an unserem langen
Zusammensein, vielleicht hatte ich sie aber auch schon von Beginn an in mir
getragen, diese Sehnsucht, seine Seele zu erkunden. Das war der Gedanke, der
mich schließlich in einen kurzen, einstündigen Schlaf wiegte: Dass ich versucht
hatte, einen Mann zu brechen, den es galt zu verführen.
    »Rede mit
mir, Pavel«, betete ich. »Rede mit mir, und ich werde dafür sorgen, dass die Sache
gut für dich ausgeht.«
    Ich sank
in Schlaf, und mir war, als wüsste ich bereits alles von ihm. Als hätte ich mir
in seinem Herzen ein Heim geschaffen. Beim Aufwachen war ich fabelhafter
Laune.
     
    Tag vier oder so: Früher Morgen,
draußen ist es dunkel. Die Kälte zieht an meinen Füllungen, die Nase ist völlig
zu, und jeder Atemzug schmerzt. Das Auto wollte nicht anspringen, und ich
musste noch einmal zurück nach drinnen, um zwei zusätzliche Eimer heißes
Wasser zu holen und sie über die Haube zu kippen. Der Lack riss unter der
Hitze, aber immerhin sprang der Wagen mit einer schmutzigen Rauchwolke an. Ich
saß hinter dem Steuer und pumpte mit dem Gaspedal, bis der Motor einigermaßen
rund lief. Dann musste ich mit der eingefrorenen Handbremse kämpfen. Auf dem
Weg zur Villa hörte ich die Wölfe heulen, die das Ende ihres nächtlichen
Beutezugs ausriefen. Man hörte Geschichten, dass die Russen mit Maschinenpistolen
auf sie schossen, als Sport und weil sie Handschuhe brauchten. Geschichten von
Soldaten, die mit ihren Jagdmessern im Schnee knieten und ihnen das Fell
abzogen, mit einem Grinsen, als wären sie zu Hause auf dem elterlichen Hof. In
der Villa kein Hinweis auf irgendwelche Menetekel: keine Nachricht von Sonja,
kein Wort vom Colonel, Mrs Fosko verschlossen wie ein Regierungssiegel, wenn
sie ihren Morgenmantel auch mit jedem Tag achtloser trug. Ihr Sohn jagte ihre
Tochter durchs Wohnzimmer, und der Chauffeur brachte Lebensmittel,
einschließlich dreier Hasen für die Speisekammer. Ich nahm mir Zeit, bevor ich
in den Keller hinunterstieg, nervös, es nicht zu verderben. Pavel begrüßte mich
mit dem Anflug eines Nickens, das Kinn dunkel vor Bartstoppeln und Ringen unter
den Augen. Zunächst schenkte ich ihm keine Beachtung, säuberte seinen Eimer
und stellte demonstrativ mein Schachbrett auf. Auch er war ruhig und sah zu,
wie ich mein einsames Spiel begann. Schwarz gewann zweimal hintereinander, dann
gab es ein Remis. Beide warteten wir und fragten uns, wer am Ende wohl das
Schweigen brechen würde.
     
    »Sie scheinen heute nicht reden zu
wollen.«
    »Sie haben mich nichts gefragt.«
    »Fragen
oder nicht, gestern konnten Sie kaum aufhören zu reden.«
    Er
lächelte, eine neue Art Lächeln, offen und ehrlich und die Wahrheit meiner
Worte anerkennend. In der Hoffnung, dass auch er sich entschieden hatte, noch
einmal neu anzusetzen, entschuldigte ich mich, um uns Kaffee zu kochen. Ich
kam schnell zurück und reichte ihm seine Tasse, zusammen mit einem Riegel
Schokolade, der

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