Vyleta, Dan
hatten.
Das Problem war, dass wir sein Gekreische nicht verstanden und es für Spott
hielten. Wieder und wieder gab er uns die gleiche Adresse: Seelingstraße 21,
die Wohnung im vierten Stock. Fosko war irgendwann so wütend, dass er ihm eine
Kugel in die Kehle jagte, wo sie ein unheimliches Loch riss. Dann trug er uns
auf, den Körper noch stärker zu bearbeiten. Er wollte, dass die Misshandlungen
zu furchtbar für westliche Hände aussahen. Damals gab es viel Rassismus, was
die »asiatische« Neigung zu Gewalt betraf. Für uns alle waren die Russen
Bestien - abgesehen von denen, die wir aus Romanen kannten. Und das betraf nur
die Buchleser unter uns.
Seelingstraße
21, vierter Stock. Wir dachten, Boyd gäbe uns Sonjas Adresse, um uns zu zeigen,
dass er von der Inszenierung des Colonels wusste. Keiner dachte auch nur im
Traum daran, dass er jemanden ein Stock tiefer kannte und die Amerikaner ihre
Stockwerke anders zählen. Ich meine, großer Gott, auf so was kommt man nicht
unbedingt, wenn man damit beschäftigt ist, jemandem Drähte ins Fleisch zu
bohren.
Den Rest
kennen Sie bereits. Eine Weile glaubten wir, die Witterung verloren zu haben,
aber dann erschien Pavel auf der Bildfläche, mit seinen Nieren, und Fosko organisierte
die Show in der Leichenhalle. Und jetzt, da ich Pavel kannte, begriff ich, wie
naiv es gewesen war, anzunehmen, dass er sich einschüchtern ließe und den Zwerg
herausgäbe. Wir dachten, entweder wäre er ein Zivilist, der keinen Ärger wolle,
oder aber er sei mit von der Partie und hätte die Ware beiseitegeschafft. Wie
sich herausstellte, war er etwas ganz anderes. Ein interessanter Mann. Ich
unterhielt mich ausgesprochen gerne mit ihm.
Boyd
dagegen war nicht zu vergleichen mit ihm.
Ich hatte
nur einmal mit ihm gesprochen, und selbst da wusste er nichts Interessantes zu
sagen.
Am 3. Januar kam der Colonel von
seiner Reise zurück, nur Stunden nachdem seine Frau und seine Kinder zum
Flughafen Berlin-Gatow chauffiert worden waren, um zurück nach England zu
fliegen. Er platzte mitten in eines unserer Gespräche und war, anders kann ich
es nicht sagen, ausgesprochen mieser Laune. Das änderte sich erst, als er wenig
später einen Telefonanruf bekam, der durch das Haus läutete wie die Glocke zum
letzten Akt. Ich war mir dunkel bewusst, dass es sich um eine Tragödie
handelte, und rechnete damit, die Bühne voller Leichen vorzufinden, wenn sich
der Vorhang zum letzten Mal senkte. Alles, was ich hoffen konnte (so muss es
auch Rosenkranz ergangen sein und Güldenstern), war, dass ich nicht dazugehören
würde.
Dritter Teil
Haldemann
25. Dezember 1946
S onja
wachte an diesem Morgen früh auf und kam der Sonne damit gleich um mehrere
Stunden zuvor. Das Zimmer um sie herum war finster, und seine Stille wurde allein
vom Schnarchen des Affen durchbrochen. Im ersten Moment erinnerte sie sich
nicht an die Ereignisse des Vortags. Sie streckte einen Arm aus, strich über
das Kissen neben sich und rieb sich die Augen. Als ihr Denken in Gang kam, war
da als Erstes ihr Kuss und sie hielt alle anderen Gedanken fern, bis sie ihn
noch einmal ganz genossen hatte, den Kuss und die Berührung seiner Finger im
Nacken. Dann wurde ihr bewusst, dass der Mann, den sie geküsst hatte,
womöglich längst tot war, oder geschlagen wurde, blutete, Zähne spuckte.
Widerstrebend schlug sie die Decke zurück, tastete nach ihren Hausschuhen und
zog einen Mantel über ihr Nachthemd. Draußen auf dem Flur war alles ruhig. Es
war der Morgen des ersten Weihnachtstags, und im Treppenhaus war kein Schatten
zu entdecken. Sie kehrte für einen Moment in ihr Schlafzimmer zurück und zog
sich eine Strumpfhose und zwei Paar Strümpfe an. Dann ging sie nach unten und
legte ein Ohr an Pavels Tür.
Es war der
Geruch, der sie anzog, obwohl sie kaum hätte sagen können, warum. Verschwommen
sah sie sich auf seinem Bett liegen und in seinem Geruch wälzen, bis er sich in
der Kälte auflöste. Auf dem Rücken lag sie da, der Länge nach auf seiner
Matratze, und schnüffelte an seiner Unterwäsche. Fast hätte das Bild sie zum Lachen
gebracht.
»Oh,
Pavel«, flüsterte sie. »Die Flausen, die du mir in den Kopf setzt.«
Ihre Augen
waren trocken, als sie das sagte. Sie öffnete die Tür.
In der
Wohnung fand sie den Jungen, schlafend in Pavels Decken gewickelt. Er trug
einen Mantel aus Wolfsfell, der ihm viel zu groß war, mit aus Holz gefertigten
Knöpfen. Über ihm, am Fenster, hing eine gefrorene Schlinge in
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