Vyleta, Dan
stummer
Einladung. Sonja sah zwei Kameralinsen auf Pavels Schreibtisch liegen, eine
Schere und eine Armeetaschenlampe. Sie fragte sich, wozu das alles gebraucht
worden war, und warf einen Blick in den Papierkorb, doch der war bis auf eine
zerknüllte Seite mit maschinenschriftlichen Notizen leer.
Der Junge
war kaum wach zu bekommen. Sie schüttelte ihn zweimal, ohne dass er seine Augen
richtig öffnete. Seine Stirn war heiß und klamm. Sonja nahm ihn auf den Arm,
wandte sich zur Tür, um ihn nach oben zu tragen, hielt aber noch einmal inne
und legte ihn zurück aufs Bett. Ihr war klar geworden, dass sie nie wieder in
dieses Zimmer zurückkehren würde. In Pavels Schrank fand sie eines seiner
Hemden, abgetragen und zerknittert. Es war schon zu oft gebleicht worden und
an den Ellbogen fadenscheinig. Sie schlang es sich wie einen Schal um den Hals
und nahm den Jungen erneut hoch. Als sie die Tür hinter sich schloss, kuschelte
er den Kopf an ihre Brust.
»Mach's
dir nicht so bequem da«, murmelte sie.
Er war
viel schwerer, als sie gedacht hatte.
Sie
steckte Anders in ihr Bett, zusammen mit einer Wärmflasche. Seine Mütze war
ihm bis über die Brauen gerutscht. Sie streckte die Hand aus, um sie ein Stück
hochzuschieben, stellte aber fest, dass sie den Jungen nicht mehr als nötig
berühren wollte. Seine Zähne gruben sich in die Lippe, ganz schwarz von altem
Blut. Einen Moment lang stand sie da und hörte zu, wie Anders durch ein halb
verstopftes Nasenloch atmete, bückte sich, um ihm ein Taschentuch neben die
schmutzige Hand zu legen. Dann setzte sie einen weiteren Topf Wasser auf und
ging an die Vitrine, um die Kaffeekanne daraus hervorzuholen. Darin befand sich
ein Paar dicker Wintersocken. Sie legte sie auf den Esstisch, mahlte Kaffee in
ihrer kleinen hölzernen Kaffeemühle und brühte ihn auf. Er füllte die Wohnung
mit dem wunderbarsten Geruch.
Er kam
herein, als sie gerade den ersten Schluck nahm. Der Kaffee war so heiß, dass
sie sich den Gaumen verbrannte. Sie musste vergessen haben, die Tür hinter sich
abzuschließen, nachdem sie den Jungen hereingetragen hatte. Der Mann war
selbst fast noch ein Junge, ein rotgesichtiger Bursche mit einem fellgefütterten
Ledermantel und einer ebensolchen Mütze. Seine Augen wirkten wie durchsichtig,
sie fielen Sonja gleich auf. Es war, als wären sie mit Wasserfarbe in sein
Gesicht gemalt worden, ihr Blau verschwamm im Weiß der Augäpfel. In der Hand
hielt er eine Pistole, die er auf Sonja richtete.
»Du hast
frisches Kaffee?«
Sein
Deutsch klang nicht schlecht, aber sie erkannte ihn sofort als Russen. Es gab
keine Frau in Berlin, die diesen Akzent nicht kannte.
»Sie haben
Ihre Uniform vergessen«, sagte sie.
Er fuhr
sich mit der Hand über den teuren Mantel. »Ist Colonels Sektor. Ist besser,
nicht aufzufallen.«
Er sah
sich in der Wohnung um und pfiff anerkennend, als er den Flügel sah. »Schönes
Klavier für die kurva.« So wie er
es sagte, glaubte sie, dass er es nicht als Beleidigung meinte.
»Was
wollen Sie?«
»Information.
Wir wollen wissen, wo ist Söldmann. Und Ware.«
»Verschwinden
Sie.«
Er bewegte
sein Kinn hin und her, als musterte er ein Pferd, das er zu kaufen gedachte.
Hinter seiner linken Backe klemmte ein Klumpen Tabak.
»Wie wär's
mit Tasse Kaffee? Ist kalter Morgen.«
»Ich hole
Ihnen eine.«
Sie stand
von ihrem Stuhl auf und ging in die Küche hinüber. Im Gehen zog sie den Mantel
eng um ihren Körper. Die Anwesenheit eines Russen in ihrer Wohnung war ihr
unangenehm. Sie rief Erinnerungen in ihr wach, die sie längst gebannt geglaubt
hatte.
Er folgte
ihr auf dem Fuß. Als sie sich nach einer Tasse umdrehte, hielt er ihre andere
Hand sanft davon ab, nach einem Messer zu greifen. Ihre Augen versuchten, das
Gewicht ihrer Bratpfannen abzuschätzen, während sie Zucker in eine Dose
schüttete. Er fing ihren Blick auf und sagte missbilligend: »Na, na!«
»Lieber
reden«, drängte er sie. »Einer unserer Männer wird vermisst. Wenn er tot ist,
wir dich umbringen.« Er zuckte mit den Schultern, als wäre das keine so große
Sache.
»Ich weiß
nicht, wovon Sie reden.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Du sprichst wie Film.« Er spuckte,
sein Schleim war tabakgefärbt. Braun und dickflüssig klebte er auf ihren
Küchenfliesen. »Heute sind Filme voll mit Menschen, die nicht wissen, wovon
sprechen. Und halbe Stunde später sie aufeinander schießen.«
Er sah sie
an, als erwarte er eine Antwort, irgendeine Art Urteil über den
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