Wach (German Edition)
einem törichten Gesicht. Bevor er ausgestiegen ist, hat er sich zu mir gebeugt und leise, als wären wir miteinander verschworen, geflüstert: Da muss sich wohl einer einreden, dass wirklich er der Papa ist … Diese Gehässigkeit hat mir gar nicht gefallen. Dabei hatte ich selbst einen ähnlichen Gedanken gehabt, nur war er ganz anders: Der ziegenbärtige Mann, dachte ich nämlich, sagt es wirklich sich selbst vor, und zwar, um sich von dem zu überzeugen, was ihm unglaubhaft erscheint: dass er, eben noch Kind, sich in einen Vater verwandelt hat.» «Das ist eine schöne Geschichte», sagt Manja, «nur dass es keine Geschichte ist, sondern, wie immer bei dir, ein Gedanke. Aber egal, ich nehme auch Gedanken statt Geschichten. Trotzdem würde ich gern irgendwann eine richtige Geschichte von dir hören. Um dich zu inspirieren, müssen wir mal in die Oper gehen. – Übrigens hat Salome gefragt, ob du sie mal wieder vom Hort abholst.»
Da kommt, auf Pfennigabsätzen eilend, Peggy Fleck herbei, Xerxes’ persönliche Assistentin. Sie bringt ihrem Chef manchmal zum Ende der Mittagspause Crêpe Suzette ins Büro, die flambierten quarts de plaisir beflügeln ihn beim Rücksturz in die Arbeit. August will nicht später an seinen Platz zurückkehren als Xerxes, deshalb verabschiedet er sich von Manja. Während er hochgeht, wünscht er sich, die Erinnerung an seinen Besuch würde Manja so über den Arbeitstag tragen, wie sie ihn trägt: In der Mittagspause rumzugehen löst die Verschnürung seines Herzens für einige Zeit. Doch im Lauf des Nachmittags kehrt sie zurück und schneidet tiefer ein als zuvor. Heute verschleppt sein Schritt schon, bevor er das Büro erreicht, auf der Rolltreppe eilt Peggy lächelnd an ihm vorbei, das bläulich züngelnde Flämmchen mit ausgestreckten Armen vor sich hertragend, um nicht Feuer zu fangen.
Von dieser Nachmittagsparalyse erholt August sich bis zum Feierabend nicht mehr. Er spürt, wie die Langeweile der Büroarbeit den Tag verfliegen lässt; effizient erledigt er, was zu tun ist, und begrübelt nebenher die Frage, was der Zeitverflüchtigung besser entgegenwirken könnte: die stets ähnlichen Tage einander immer weiter anzugleichen, bis sie ein einziger werden, stehendes Jetzt am Horizont der Bürozeit; oder den trüben Blick zu schärfen fürs Unwesentliche und Abseitige, für die winzigen Unregelmäßigkeiten und Abweichungen, so als schlüpfte man in Bläschen, die im Stillstand der Zeit unbeirrt dahintreiben. Plötzlich ist sich August nicht mehr sicher, ob er im Fließen der Zeit den Stillstand oder in ihrem Stillstand ihr Fließen sucht. Am Ende des Tages fühlt er sich zerfasert durch die nervöse Eintönigkeit seiner Arbeit, die Stunden vor dem Bildschirm haben Genickstarre und Augendrücken hinterlassen; und alle Versteifung wird sich erst lösen, wenn er wieder losgeht.
Eine nächtliche Straße, ein verwilderter Bauzaun, wie ein Vorhang, der sich nicht mehr heben wird: Dahinter liegt der ehemalige Schlachthof, der einmal zu den größten der Welt gehört hat, jetzt eine weitläufige Landschaft aus Gras und Sträuchern, überwachsene Gleise enden am Zaun, verstreute Backsteinruinen, ein großes Schild kündigt Townhouses an, ein Traum in Grün . Noch hat kein Bau begonnen. Aufs trockene Gras fällt das gelbe Licht der Straßenlaternen, matt wie alle Beleuchtung in dieser zur Dunkelheit neigenden Stadt. In einem fernen Gebäude flackert es, ein Scheinwerfer oder Lagerfeuer, in den Fenstern bewegen sich Schatten, vielleicht eine Party. Was müssen das für Hallen gewesen sein, nüchterne Kathedralen, erhabene Kliniken: Rinderhalle, Kälberhalle, Schweinehalle, Lämmerhalle, innen taghell und außen aus rotem Klinker. August versucht, aus dem Grasland Echos von Geräuschen zu locken, wie muss das geklungen haben, er versucht Bilder heraufzurufen, die Ankunft von Viehwaggons, das Treiben über den Hof, Tierhälften an Haken, der abgeklappte Kopf eines Kalbs; vergeblich, die Landschaft bleibt tot, in der Stadt gibt es kein Schlachten mehr, nur noch Fleisch, körperloses Fleisch, Grillwürstchen und Bio-Heidschnucke. Er ist ja bloß aus Gewohnheit Vegetarier. Das nächtliche Rumgehen macht hungrig, wo könnte man in dieser Gegend was zu essen bekommen? Die Townhousepläne könnte er sich mal ansehen.
Er geht auf der leeren Fahrbahn, balanciert auf der Straßenmarkierung. Nachts gehört die ganze Straße dem Fußgänger, es gibt keinen Unterschied zwischen Gehweg und Fahrweg.
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