Wach (German Edition)
Er schließt die Augen, nun ist das letzte Licht gelöscht, kann er da die Gerade halten? Er muss seinem Richtungssinn vertrauen. Zum Glück hört er ein heranrasendes Auto schon von weitem, als Fußgänger muss man vorsichtig sein.
Im Gehweg liegt eine verlassene Baugrube voll Wasser, darin schwimmt halbzerfallenes Laub eines vergangenen Herbstes, ertrunkene Pollen. Pollen kleben auch an einem Hundehaufen. So gebannt, machen sie August keine Sorgen, ohnehin ist die Birkenblüte überstanden, er schnieft nur noch wenig. Am Wegrand, auf Scherben gebettet, abgelagerter Müll, ein Sofa mit aufgeschlitztem Polster, ein Fernseher, eine Autobatterie, Schnapsfläschchen und Plastikfolien, eine Socke. Die Abfalldecke zieht sich bis ins Gebüsch, aus dem die Stimme eines Singvogels dringt, flach schnarrend und dabei so laut, wie August es noch nie gehört hat. Vielleicht ist der Vogel in diesem zerstruppten Gebüsch allein, schon immer allein gewesen, und hat im Lauf der einsamen Jahre erst allmählich, mit wachsendem Entsetzen, bemerkt, dass weit und breit kein anderes Singvogelgebüsch ist, nur eine Durchfahrtsstraße und eine grenzenlose Graslandschaft, und so hat er begonnen, immer lauter zu singen, und lauter, in der Hoffnung, irgendwann werde sein Gesang bis zu möglichen Gebüschen außerhalb seines Sichtfelds reichen; nur ist über dem langen Schreien seine Stimme hässlich geworden. Die Mietskasernen auf der anderen Straßenseite, nur noch zur Hälfte bewohnt, manche schon ganz vernagelt, warten auf ihren Rückbau. In den Häuserlücken spannen sich Schnüre mit Dreieckswimpeln, abwechselnd blau und silbern, vom Luftzug der Sommernacht sanft bewegt, über Gebrauchtwagenarealen, die so tun, als werde aller Fortgang sie nicht betreffen; und August hat das Gefühl, sie haben recht damit, und sie werden auch dann noch recht gehabt haben, wenn sie längst verschwunden sind.
Und warum ist diese Stadt so dunkel? Sie ist ja überall mangelhaft beleuchtet. Und leer, sie hat weniger Einwohner als vor achtzig Jahren, gleichzeitig hat sie sich ausgedehnt, ihr Wachstum ist eine fortschreitende Ausdünnung, Mexiko-Stadt hat auf derselben Fläche sechsmal so viele Menschen. In den letzten Jahren soll die Bevölkerung wieder gewachsen sein, August kann’s nicht sehen. In den großen Wohnungen leben kaum Menschen, abends kommt aus wenigen Fenstern Licht, aus einem von vier, schätzt August; die Häuser erscheinen ihm wie leere Regale (schön, auf ihre Weise).
Eine Art rumzugehen ist, an einer, noch halbbekannten, Ecke loszulaufen, zweimal abzubiegen, dreimal, da meint man noch zu wissen, wo man gleich rauskommen wird, und ist schon in eine unbekannte Gegend geraten, und dann geht man weiter und weiß nicht mehr, wo was liegt, und freut sich, dass es das alles gibt und alles schon gegeben hat, als man noch nicht hier gewesen ist, und jetzt ist man endlich, endlich hier. Eine andere Art ist, auf bekannten Wegen zu gehen, sich übers Vertraute zu freuen und nach dem zu suchen, was man bisher übersehen hat, und auf das zu achten, was immer wechselt: Passanten, Tiere, bewegliche Dinge.
Am schönen neuen Uferweg, nah seiner Wohnung, ist August oft sonntagmorgens unterwegs. Schwäne putzen sich im flachen Wasser in der Morgensonne. Ein Angler zieht eben einen Fisch aus dem Wasser, ein zappelndes Rotauge, er nimmt den Fisch in die Hand und haut ihm mit einem Hämmerchen auf den Kopf, das Rotauge zuckt nicht mehr und wird in einen Eimer geworfen, zu anderen toten Rotaugen. Heimtropfende Nachtschwärmer machen den eben Aufgestandenen Platz: Hundebesitzern und Joggerinnen, bald auch Erwachsenen mit kleinen Kindern, auf dem Weg zum Bäcker oder Spielplatz; ein Vater und seine Tochter bestimmen mit einem Buch Pflanzen, Sonntag früh, halb acht.
Nachts ist der Weg ganz anders. Das Gras verbirgt ein Grüppchen Feiernder, helles Lachen und die Glut eines Grills leuchten in der Dunkelheit. Ein Stück weiter spielen zwei Schatten in fast völliger Finsternis mit einem strahlend gelben Ball Tischtennis, beim Näherkommen erkennt August ältere Frauen, vielleicht ein lesbisches Paar. Diese nächtlichen Tischtennisspielerinnen sind ihm sofort sympathisch; sonst kommen ihm Nachtschwärmer oft wie unbefugte Besucher vor, im Gegensatz zu Schicht- und Nachtarbeitern; manchmal allerdings sieht er nächtliche Spaziergänger an, meint auch einen versteckten Blick zurückzubekommen (ansprechen würde man sich nie) und spürt, das ist einer, der auch
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