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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albrecht Selge
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Bänken und wippen unaufhörlich mit den Beinen, einer streut die Schalen geknackter Sonnenblumenkerne um sich, August denkt, er hat einen Ring aus Tröpfchen seiner Angst um sich gezogen. Eine andere Gruppe geht vorüber, mit vor Gehemmtheit ausladenden Schritten. Es ist ein Jammertal von Männlichkeit, eine öde Vitalitätsvortäuschung: hölzern nachgespieltes Leben, detailreich und übercodiert, zugleich in jeder Nuance stockend und undeutlich.
    An einer großen Kreuzung steht das Gras im Bordstein geknickt, Wespen sitzen auf einer zertretenen Kirsche, der Asphalt scheint zu dampfen, August sieht schon die Fahrbahnmarkierungen schmelzen, da beginnen plötzlich alle Ampeln zu blinken, ein dunkelgelbes Szintillieren, und weiße Motorräder mit grünen Männern rauschen heran und stellen sich quer, sodass sie eine Gasse bilden, Passanten verdichten sich, an Fenstern erscheinen Beobachter, und dann kommen noch mehr Motorräder und eine lange Limousine mit dunklen Scheiben, weitere schwarze Wagen und ein Kleinbus mit Arabern in Businessanzügen und Dishdashs, um ihre Hälse baumeln Akkreditierungsmarken, einer hat einen schwarz-rot-goldenen Schal umgelegt, weitere Motorräder beschließen die eilige Karawane, und am Ende setzen sich auch die ersten Motorräder wieder in Gang und ziehen davon; die Autos fahren zögerlich an, Fußgänger laufen los, die Ampeln springen um, und allmählich fließt der Verkehr ineinander, als wäre nie etwas gewesen, vorbei die wilde Jagd. Nur an einer Ecke steht noch ein kleiner Junge mit Roller und blickt in die Richtung, in der schon längst nichts mehr ist. Dem Jungen scheint auch die Hitze weniger auszumachen als den Erwachsenen. August merkt, dass er selbst in der Sonne steht, sieht sich um und geht in ein Internetcafé. Drinnen ist es so heiß wie draußen, die Ventilatoren wirbeln die stickige Luft nur im Kreis. August kauft einen isotonischen Durstlöscher und sucht sich einen Platz. Neben ihm sitzt eine dunkelhäutige Frau mit Kopfhörer an einem Sprachlernprogramm. August bekommt statt hundertneunzig diesmal vierhundert Treffer: august kreutzer tummelt sich auf www.spannerforum.com oder auf www.hassausbruch.tk, verflucht Ausländer, nennt eine Politikerin Fettes Hängebauch Schwein . August denkt, er müsste sich vielleicht mal was überlegen.

    Im guten Viertel ist es immer zwei, drei Grad kühler, und der Himmel hat mehr Sterne als in den inneren Bezirken: Dort hellt ihn das Licht von Fenstern, Laternen, Autos auf, hier ist die Dunkelheit der Stadt fast ungestört. Nur in einem Fenster brennt noch oder schon Licht, wer da wohl nicht schlafen kann oder mag? Der Schimmer der Straßenbeleuchtung liegt matt auf leerem Kopfsteinpflaster, an den Laternenköpfen flirren Hunderte Tierchen, August wundert sich über das unsinnige Massensterben. Die Villenstraße zieht sich am Wald entlang, aus den Fenstern wird man ins Schwarze hinaussehen können. Wie Ungetüme stehen zwischen den Villen klobige Wohnhäuser für Botschaftsangehörige der Golfstaaten, ungelenke Halbrundarchitektur mit behaupteten Terrassen. Vor einer beflaggten Residenz wacht ein Polizist. August beobachtet ihn eine Weile; wie langweilig muss diese Arbeit sein: Minute für Minute dem Ende der Schicht entgegenwippen und dabei hoffen, dass die Zeit nicht endgültig stehenbleibt. Aber Augusts Polizistenobservation aus dem Dunkeln müsste verdächtig wirken, wenn jemand wiederum ihn observierte, er will also am Polizisten vorbeischlendern und ihn beiläufig grüßen, doch sofort ergreift der Polizist die Gelegenheit zum Gespräch und erzählt: Wenn die Hitze selbst nachts kaum nachlasse, sei regloses Herumstehen das Beste. Er arbeite immer von sechs bis sechs, vom Morgen bis zum Abend oder vom Abend bis zum Morgen, im Sommer wie im Winter (im Winter gehe er aber auf und ab), das gefalle ihm, man sei sein eigener Herr und die Zeit fließe so gleichmäßig, «da macht man seine Beobachtungen. Heute hab ich einen sehr kleinen Marienkäfer gesehen, der war übersät gewesen mit schwarzen Punkten, und vor allem war er nicht rot gewesen, sondern gelb. Da hab ich mich gefragt, ob das ein alter Marienkäfer ist. Meinen Sie, Marienkäfer ergelben, so wie Menschen ergrauen?» August hat keine Ahnung: «Vielleicht», sagt er. «Man sieht hier alle möglichen Tiere», fährt der Wachpolizist fort, «dazu ist man nah an der Natur. Meine Frau ist Kassiererin, in einem Supermarkt, das wär nichts für mich. Hier kann man nachdenken.»

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