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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albrecht Selge
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verschwundene Verfallszeit gelangen und versucht, sich Gerüche und Geräusche von fünfhundert Pferden zu vergegenwärtigen. Vor den Türen, zwischen geparkten Autos, stehen rauchende Angestellte, und August fällt ein, dass der Pferdebahnhof schon vor hundert Jahren ein nostalgischer Ort gewesen sein muss, als er sich mit der Elektrifizierung der Straßenbahn über Nacht in etwas von gestern verwandelt hatte.
    Aber am liebsten sind ihm solche Spuren: letzte Schuppen auf Hinterhöfen, wo einmal Handwerksbetriebe gesessen haben, oder bloß deren Silhouetten an fensterlosen Hauswänden, Linien, Geraden, Diagonalen; oder in einem Billigsupermarkt der leicht abschüssige Boden, der August ein Rätsel ist, bis er sich im Aufwärtsgehen an die auffällige Front des Gebäudes mit Säulen und Torbogen erinnert und begreift, der Supermarkt muss einmal ein Kino gewesen sein; oder Namen wie Heidestraße, Gesundbrunnen, Koloniestraße, wo heute der Autoverkehr durchbraust: vorstädtische Vergangenheit, von der nichts als eine Bezeichnung geblieben ist (da muss er ans Lustschlösschen denken). An einer baumlosen Waldstraße entdeckt August, erschlagen von der Nachmittagshitze, eine Tanzschule auf einem Hof: Aufgebrezelte Mädchen trainieren in einem großen Saal eine Simultanchoreographie, und August denkt, was jetzt Society Dance House heißt, könnte das verschwundene Ballhaus sein.

    Auf der Stadt liegen zahllose Netze. Manche knüpft August selbst aus dem, was er auf den Gehwegen vorfindet: Kiefernzapfen, zu Flecken getretenen Kaugummis, Hundehaufen in all ihren Farben und Formen (die August daran erinnern, dass in seiner Kindheit der Hundekot immer weiß war, vielleicht weil die Hunde damals mehr Knochen oder Knochenmehl bekamen; sodass die heutige Stadt ihm manchmal wie eine einzige Abwesenheit von bleichen Hundehaufen erscheint). Ebenso gern spürt er den Spuren nach, die Aufmerksamkeit suchende Unbekannte für ihn gestreut haben. Graffiti und Tags gefallen ihm, wenn sie tote Orte beleben, und er freut sich, bestimmte Signaturen immer wieder zu entdecken. Besonders gern sieht er Tags, die missglückt und damit aus der Monotonie ihrer Wiederholungen herausgehoben sind. Einmal findet er auf einer grünen Halbkugel am Straßenrand einen aufgesprühten Namenszug, der vertraut und zugleich fremd ist, denn die Farbe ist zerlaufen, und so erinnert die Schrift an durch Regen oder Tränen verwischte Schminke: Der Sprayer hat durch sein Ungeschick einen Glascontainer in ein trauriges Ding verwandelt, einen weinenden Pierrot.
    Andere Spuren sind beunruhigender, man spürt die Verhedderung ihres Urhebers in einen Wahn. An Laternenmasten, Kleidercontainern, Stromkästen und Bauzäunen kleben gewellte DIN-A4-Zettel, auf denen in dick unterstrichenen Buchstaben steht:
Fleisch bedeutet Gewalt und Tod!!!
    oder
Milch ist harmlos?
Oder doch miese Ausbeutung???
    Die Hysterie der Satzzeichen gibt der rhetorischen Frage etwas Bedrohliches, der passierende Leser sollte sich in Acht nehmen; und wenn er direkt angesprochen wird:
Verzichten Sie auf Produkte des Todes und der Ausbeutung!
    sollte ihn die Höflichkeitsform nicht beruhigen, im Gegenteil, ein siezender Befehl verheißt nichts Gutes.
    Wie nach Kothaufen, Taggings und Wahnzetteln ließe sich die Stadt auch nach ihren Verbrechen vermessen. Im Gehen und Stehen stolpert man über kleine Messingplatten, die vor Häusern in den Boden eingelassen sind; auf jeder steht ein Name, ein Geburtstag, ein Todestag, oft auch nur das Datum der Verschleppung. Auf einem Stein vor einer Haustür liest August einen Namen und zwei Daten: Das Kind ist bloß vier geworden. August würde ihm gern etwas schenken, Musik und Luft und Vögel, und nach einer Weile sagt er: «Komm, Theodor, wir spazieren ein Stück», und reicht die Hand hinab, er muss sich ein wenig bücken, so klein ist das Kind noch, und spaziert los, einige Passanten sehen ihn, einen seltsamen Mann, misstrauisch oder belustigt an, und kommt schließlich in einen Park, an dessen Ende ein belebter Spielplatz zu sehen ist, da öffnet er die Hand und lässt seinen Begleiter vorauslaufen.

    August begibt sich ins Zentrum. Die Spuren der Zeit, erfasst und verzeichnet, sind dichtgedrängt, denn die Stadt ist jung und hat eilig nachgeholt, was andere Städte in Jahrhunderten durchmachen, Aufstieg und Fall, Fieber und Agonie, selbst das Hindämmern hat hier nur kurz gedauert, alles, das Außergewöhnliche und das Durchschnittliche, war verstimmt und ohne

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