Wach (German Edition)
«Worüber denken Sie nach?», fragt August und erschrickt dabei, ob die Frage wohl zu weit geht. «Worüber man halt so nachdenkt», antwortet der Wachpolizist: «Das, was in einem ist, und das, was über einem ist. Sehr weit kommt man nicht. Früher hatten wir auch Schätze versteckt und so was (in der Tagesschicht natürlich), dann waren die Kinder am Ende der Schnitzeljagd hier angekommen, und wir hatten die silberne Kiste aus dem Wachhäuschen geholt. Heute sind Kindergeburtstage anders, meine Enkel feiern in Kindercafés. Und wir dürfen es ohnehin nicht mehr machen, seit man sich vor den Bombenlegern fürchtet. Eigentlich sollte ich auch mit Ihnen nicht so lange reden.»
August schlendert Häuserfassaden entlang. Viele Gebäude sind weit zurückgesetzt, sodass man sie von der Straße aus kaum sehen kann. Hier und da erinnern angeleuchtete Gedenktafeln an exilierte oder ermordete Schriftsteller und Schauspieler; eine Platte für Lion Feuchtwanger ist im Gehweg versenkt (die Regerstraße hieß früher Mahlerstraße), auf öffentlichem Grund, vielleicht will der heutige Hauseigentümer den Namen seines Vorgängers nicht an der Fassade haben. Im Garten bellt ein unsichtbarer Hund, rennt hinter Zaun und Hecke mit, sein Bellen fliegt durch die Nacht, es verfolgt August noch, als er schon weit weg ist. Durch die vornehmen Straßen geht August mit den Händen auf dem Rücken: eine untergegangene Form des Gehens, denkt er sich, eine pastorale Form, Ausdruck von Ruhe und Selbstbeherrschung, einer Entspannung, der es nicht einfiele, Grenzen aufzulösen. Aber etwas beunruhigt ihn. Es hat mit den Autos zu tun, die hier parken; zunächst meint er, es wären die kleinen roten Punkte der Alarmanlagen, die in den Autos blinken, jeder einzelne gleichmäßig, aber zueinander nie synchron, ein stummes, schräges Konzert. Aber das ist es nicht. Es ist die Übergewichtigkeit der Autos, hier stehen keine Limousinen, wie man sie schon immer kannte, lang und breit, gebaut zum abgeschiedenen Fahren, sondern erhöhte und gepanzerte Geländewagen: als rüsteten die Eigentümer sich für etwas, was kommen könnte. Aber ähnliche Autos stehen ja auch in der Innenstadt, auch in Augusts Straße. Er bekommt Lust, in den stockfinsteren Wald zu gehen. Bevor er es sich überlegen kann, sieht er auf der Straße etwas Großes, Dickes, Dunkles nahen. Der ungefüge Klops bewegt sich, als gehöre die nächtliche Straße nur seiner formlosen Masse. Wie in einem dunklen Kanal schiebt er sich die Fahrbahn entlang, es ist, als wichen Autos, Bäume, Häuserwände vor seinem schweren Gleiten zurück. August steht lange wie angewurzelt, ehe er sich besinnt und vorsichtig hinter ein Auto tritt. Eine Hand flach auf der Motorhaube, beobachtet er das Herankommende, denkt, er müsste sich fürchten; aber er fürchtet sich nicht, er steht wie mit dem Auto verbunden da, und seine Augen folgen dem stillen, herrschaftlichen Vorübergehen des Wildschweins.
Bei Tagesanbruch geht es sich leicht. Eine Frau steht vor ihrem Auto und raucht; als sie einsteigt und wegfährt, bleibt der Rauch unbewegt in der Luft stehen. Dem frühmorgendlichen Lieferverkehr ausweichend, biegt August auf den Uferweg ein. Aus dem Wasser ragen die Hälse von Bierflaschen, sacht schaukelnd. Rund um die Abfallkörbe liegt Müll, August ärgert sich über die Achtlosigkeit der Leute; erst als er eine Krähe über den Weg schreiten sieht, begreift er seinen Irrtum. Am Böschungszaun glänzen Spinnennetze im Morgenlicht, eine Bachstelze trippelt im Gras, ein Eisvogel schwirrt übers Wasser. August kommt zur Bahntrasse, der Obdachlose auf der Uferbank ist ihm mittlerweile vertraut, obwohl er ja nur seinen Hinterkopf kennt. Heute sitzt auf dem schlafenden Bündel ein gelber Farbtupfer: ein leuchtender Zitronenfalter. Passt der denn hierher? Er steigt auf und flattert, setzt sich wieder, tänzelt in der Luft um den schlafenden Obdachlosen, kreist um seinen Kopf, lässt sich nieder, ein nicht endendes Spiel des Friedens.
LustschlösschenCenter Aktuell – Juli
Editorial
Treffen wir uns am Trevibrunnen!
Liebe Leserin, lieber Leser ,
Heu und Herrschaft, Patrizier und Agrarier: Was wir heute nach dem Cäsarengeschlecht der Julier nennen, hieß einst Heumonat, Heuert . Glückliche und schreckliche Zeit, in der weltliche und geistliche Herrschaft sich unter der dreifach gekrönten Tiara vereinigten! Authentisch erlebbar wird sie am 19. Juli im LustschlösschenCenter, wenn wir die originalgetreue
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