Wach (German Edition)
August hat Mitleid mit dem Mann, einem älteren, nicht unsympathischen Herrn. Er achtet auf die Nase des abgesetzten Diktators, es ist die vergrößerte, grobporig gewordene Nase des fortgeschrittenen Alters; dann berührt er seine eigene Nase, die ein wenig kalt ist, und schaltet mit der freien Hand weiter. Nun ist er in eine Wissenschaftssendung geraten, auf einem abstrakten Kopfquerschnitt blinken bestimmte Gehirnregionen rot, gelb und blau, und eine Stimme erklärt, bei vielen Menschen seien die Schlaf-Wach-Zyklen einem zirkadianen Rhythmus unterworfen, und bei den meisten betrage dieser zirkadiane Rhythmus mehr als vierundzwanzig Stunden, darum blieben sie abends gern länger auf und fänden morgens nur schwer aus dem Bett; vereinfacht gesagt, habe die innere Uhr vieler Körper fünfundzwanzig Stunden, die innere Uhr weniger anderer nur dreiundzwanzig. August fällt ein, dass er eine zirkadiane Küchenuhr hat. Er schaltet den Fernseher aus und geht in die Küche, um sie anzuschauen. Die Uhr steht auf dem Kühlschrank zwischen leeren Direktsaftflaschen. August hat sie schon ziemlich lange besessen, bevor ihm aufgefallen ist, dass sie pro fünf Minuten sechs Striche hat, eine Stunde also in zweiundsiebzig Einheiten unterteilt ist. Er nennt diese zweiundsiebzigminütige Stunde Küchenuhrstunde und spinnt, ein Tag dauere nur zwanzig Küchenuhrstunden; würde er vierundzwanzig Küchenuhrstunden dauern, dann fiele die vierte oder fünfte Stunde an einem Tag in die Morgendämmerung, am nächsten in den Vormittag, dann in die Mittagszeit und so fort. Ob seine Schlaflosigkeit damit zusammenhängen könnte, dass sein Körper im Takt der Küchenuhr läuft? Da ist auch wieder das Schwerkraftphänomen. Hängt die Bewegungsschwere in der Wohnung mit der zirkadianen Küchenzeit zusammen? Aus der Schwerfälligkeit der Zeit ergibt sich paradoxerweise ein Zeitverlust, denn August merkt, die Zeit geht nicht dann verloren, wenn sie besonders schnell läuft, sondern dann, wenn sie zäh fließt: Nicht im Flug, sondern in der Gerinnung löst sie sich auf.
Um sich abzulenken, will er aufräumen, er ordnet sein neues französisches Besteck in Schubladen ein und holt einen Karton mit alten Unterlagen vom Küchenschrank. Neben nutzlosen Bedienungsanleitungen findet er die Rechnung für einen Kühlschrank, den er am sechsundzwanzigsten Mai vor vierzehn Jahren gekauft hat. Die Rechnung versetzt ihn in seine damalige Küche zurück, die abgeranzte Studentenbude, sein unfertiges Leben, die Kühlschrankrechnung wird zu einem magischen Papier, und die Küche von damals, in der er nichts mit sich anzufangen wusste, erscheint ihm als ein zauberhafter Ort, nach dem zu sehnen sich lohnt. Zugleich muss er an seine Eltern denken, die sich in tausend vergangenheitsbehafteten Dingen eingerumpelt haben; und so schmeißt er die alte Kühlschrankrechnung, mit einem Haufen anderer überflüssig gewordener Zettel und Belege, ins Altpapier. Dabei weiß er, dass ihm das schon am nächsten Tag leidtun wird.
Am Sonntag, wieder, ins selbe Ausländerviertel. Heute knallt die Sonne. Am Himmel ein Hubschrauber, August ist die ganze Nacht irgendwo rumgelaufen, jetzt dröhnt ihm der Kopf, von Mittagshitze und Müdigkeit, so schummrig und flattrig ist ihm, bis in die Fingerspitzen, betäubt bis kribbelnd, kann er sich nicht vorstellen, dass er je wieder schlafen könnte, in der Nervosität; der schrille Sound der Grillen im vertrockneten Gras einer Brache, grell, als wären es Betriebsgeräusche der glühenden Sonne, und im Gras Glitzern und Funkeln, wie im Winter Schneekristalle, von tausend Glasscherben. August spürt am Oberschenkel die Hosentasche kleben, in der Münzen stecken, jetzt hat er immer Kleingeld griffbereit. Aber heute spricht ihn niemand an, und August geht auch ganz anders als neulich, schwirrt wie ein verängstigter Vogel von Schatten zu Schatten, sucht Schutz unter Baumkronen und hinter geparkten Lastwagen. Im hitzebedingten Zickzackkurs nimmt er wenig wahr, nur eine allgemeine Gereiztheit, als könnte immer irgendwo was explodieren, selbst die Kanaldeckel flirren. In der Verkehrsberuhigung rasen Autos auf Huppel zu, bremsen scharf, holpern drüber, starten mit heulendem Motor durch bis zur nächsten scharfen Bremsung dreißig Meter weiter. Ein Mann sitzt mit rotem Kopf in der prallen Sonne und trinkt. Junge Ausländer bevölkern den Sonntagmittag, in einer Art großem Brüten: Einer steht rum, posiert ohne Zuschauer, ein paar hängen auf
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