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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albrecht Selge
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fallen August die Namen der Straßen auf, die sich hier kreuzen, Wiclefstraße, Bugenhagenstraße, Agricolastraße, Waldenserstraße (zu Schulzeiten hat er wohl von Waldensern gehört, aber er kann sich nicht entsinnen, wer sie waren). Von der Waldenserstraße geht erst die Melanchthonstraße, dann die Zwinglistraße ab, da begreift August, dass alle diese Namen mit Reformation zu tun haben. Es wird so sein: Vor über hundert Jahren ist das Dominikanerkloster mit Reformationsnamen eingekesselt worden, eine Schmalspurkonfessionsfehde; damals schon von gestern, ist diese Konstellation heute doppelter Bote von Vergangenheit. Da sieht August das Café Waldenser Bosporus e.V ., an dessen Glastür ein Zettel klebt: Zutritt nur für Mitglieder . Im kalten Licht von Neonröhren sitzen Männer, sie trinken Tee aus kleinen Gläsern und spielen Karten oder Backgammon: Hier also, denkt August, sind die älteren Männer, die auf der Straße gefehlt haben. Später, in der Hussitenstraße, kommt ihm eine Schar Kinder entgegen, in schwankenden Zweierreihen, Hand in Hand. Vorneweg läuft eine Erzieherin, am Ende des Zuges geht ein Südländer mit langen schwarzen Haaren, auch er hält ein Kind an der Hand, einen Jungen im rot-blauen Fußballtrikot mit dem Schriftzug Unicef auf der Brust. Dieser Junge ist die ungerade Zahl, denkt August. Er hat einen kurzen, runden Kopf und schräge Lidachsen, in seinem Gesicht liegt etwas, das August zum Lächeln bringt. Das Kindergesicht reagiert darauf wie in Zeitlupe, als ob es ihn durch ein umgedrehtes Fernglas wahrnähme, in weiter Entfernung, oder durch einen für andere unsichtbaren Schleier; doch umso wärmer, umso freier ist das verspätete Lachen, das es August schließlich zurückgibt. Er hätte den freien Nachmittag nutzen können, um Pit und Salome abzuholen, denkt er, während er der Kindergruppe nachsieht; das Trikot des Jungen trägt die Nummer 10 und darüber den Namen Kenaninho . Früher hätte man ihn, was man heute nicht mehr soll, mongoloid genannt, und August erinnert sich: Als er vierzehn oder fünfzehn war, hat er mit seinen Freunden jeden Tag nach der Schule Fußball gespielt, oft bis tief in den Nachmittag, und einmal ist ein gleichaltriger Mongoloider gekommen und wollte mitspielen; sie ließen ihn, er war etwas langsam, alles lief etwas verzögert, aber sie richteten sich nach ihm, zehn Jungen pendelten sich auf den Rhythmus des elften ein, und sie nannten ihn immer Mongo: Mongo lauf, greif an Mongo, bravo Mongo, es machte ihm nichts aus, er lief und lachte und sie lachten auch; wäre ein Erwachsener dabei gewesen, hätte er sie vielleicht ermahnt, sich nicht über den Jungen lustig zu machen, dabei war es unschuldig und schön. Erst jetzt fällt August auf, wie viele mongoloide Kinder man in den Ausländervierteln sieht. Er fragt sich nach dem Grund, liegt es an Armut oder schlechter medizinischer Versorgung, etwa an muslimischen Genen? Dann fällt ihm ein, es muss umgekehrt sein: Nicht hier sind es so viele, es sind dort so wenige, die Mongos kommen in den anderen Vierteln nicht mehr zur Welt; und etwas beschleunigt geht er weiter.

    Wach im Bett liegend, starrt August die Schlafzimmerdecke an. Er ist nicht verzweifelt, er denkt bloß: Ich habe einfach vergessen, wie das geht – einschlafen. Eine Weile lauscht er nach jedem Geräusch, das hereindringt, einem vorbeiknatternden Moped, entfernten Stöckelschritten, dem Wind in den Blättern der Kastanie. Als er aus den Wänden ein leises Knirschen vernimmt, setzt er sich auf und schaltet das Licht an, man sollte nie länger als fünfzehn Minuten liegen bleiben, wenn man wach ist. Er nimmt die Zeitung vom Nachttisch und liest von einem Herzspezialisten, der Truckfahrer geworden ist, um noch etwas zu sehen von der Welt; die französischen Autobahnen, wird er zitiert, seien hervorragend, das galizische Bergland beeindruckend. Könnte man auch, fragt sich August, französische Autobahnen beeindruckend und das galizische Bergland hervorragend nennen? Ein ukrainischer Milliardär, der einen englischen Fußballclub gekauft hat, sagt im Interview: Ich will den Standard von Exzellenz neu definieren. August steht auf, überlegt, eine neue CD zu hören, Marienleben von Hindemith, und schaltet den Fernseher ein. Es läuft die Wiederholung einer Talkshow, der Manager eines Fußballvereins sagt: Wie ja alle wissen, wurde mir dieser Abstrich an der Nase gemacht. Auf dem nächsten Sender steht ein abgesetzter Diktator vor Gericht.

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