Wach (German Edition)
Zeitalters, herauf dämmert die Schöpfung einer anderen Einzelhandelswelt. Noch scheinen Chaos und Wirrwarr zu herrschen, auf der Landkarte der Macht tummeln sich Landsknechte, Söldner, tausend Städtchen wie Tortona und Pisa : halsstarrig, obwohl sein Hafen längst versandet ist … ja: Die Fußgängerzonen versanden. Die Warenhäuser neigen sich. Die grünen Wiesen verdorren. Aber, Herr Kreutzer, aber ! Aus dem Tohuwabohu entsteht Neues: Wir erleben eine Renaissance; nein, wir schaffen sie. Denn wir entmotten den Flickenteppich des Einzelhandels, wir entrümpeln das Dickicht – das eintönige Dickicht der Städte: Wir stoppen die Monostrukturen, stoppen die Horrormieten, wir mixen Branchen, wir bieten Raum für attraktive Lebensmittler. Denn früher war Raum zwischen Gebäuden; heute ist da nur noch Abstand . So geben wir den siechenden Häuserhaufen neue Zentren, neue Marktplätze, Rathausplätze, Kirchplätze – wir reanimieren . Die Mall ist die Fortsetzung der Stadt mit anderen Mitteln. Aus der Unordnung wird Großes entstehen, Festes: Florenz! Venedig! Genua! Die scheinbaren Wirren unserer Zeit steuern auf ein Ziel – auf ein Ziel zu: Die Welt muss Norwegen werden. Hic Oslo, hic salta, Herr Kreutzer! Wussten Sie, dass es nirgends mehr Mall pro Mensch gibt als im Land der Fjorde?»
Die Tintenfische sind innen noch gefroren. Vor dem inneren Auge sieht August zehnarmige Kopffüßer, die Schädel wie eingeditschte Eier. Soll er sich über die eisigen Tentakel beschweren? Er trinkt vom Kaffee und sagt: «Und wir – was tun wir?»
«Das ist es», flüstert Xerxes. «Ich wusste, dass Sie die richtige Frage stellen würden! Wir – wir horchen. Wir horchen hinein. In die Welt, in den Markt, meinen Sie? Nicht nur. Sehen Sie hier », mit Schwung greift er in die Innentasche seiner Anzugjacke und zieht ein orangefarbenes Büchlein hervor: «Reclam, Herr Kreutzer! Im Internet gekauft – keine Zeit, in Geschäfte zu latschen. Klassiker im Taschenformat, zweisprachig. Wir lesen und legen aus; versuchen wir aber, nicht voreilig zu sein, nicht wörtlich – nichts wörtlich, allzu wörtlich verstehen!» Er schlägt eine mit Eselsohr markierte Seite auf und liest vor: «Perché, Herr Kreutzer, sempre ancora che uno sia fortissimo in sugli eserciti, ha bisogno del favore de’ provinciali a intrare in una provincia.» Fragend richtet er den Blick auf August: «Verstehen Sie? Mag wer stark, mag er auch der Stärkste sein durch seine Truppen, er braucht doch die Gunst der Einwohner. Das ist leicht, nicht wahr? Wir – Sie handeln stets danach. Sie kreieren Erlebnisse . Er-Lebnisse: Sie er-wecken zum Leben. Handelswelten emotionalisieren … nicht Bedürfnisse befriedigen, sondern Wünsche erfüllen … Aber die Niete kann kein Glück schenken, nur der Erfolgreiche.
Der Fürst, lesen wir weiter, muss darauf achten, dass er ganz erfüllt scheint von Milde, Treue, Aufrichtigkeit, Menschlichkeit, Frömmigkeit. Nun gut, denken wir. Aber spitzen wir die Ohren, Herr Kreutzer, denken wir weiter: Was steht hier nicht ? Sie kommen drauf, nicht wahr? Hier steht nicht: Er soll erfüllt scheinen von Schlä– von Schläfrigkeit . Sie verstehen mich, ja?» August ist zusammengezuckt. Xerxes sieht ihn lange, eindringlich an. Dann beugt er sich ein wenig vor und wispert: «Ihre Leistung der letzten Wochen und Monate ist mir, ist uns nicht entgangen. Sie haben Aussichten, Herr Kreutzer. Aber übertreiben Sie nicht. Gesundheit ist das Kapital aller Chancen. Ich bin ein Naturwunder, mir genügen zwei oder drei Stunden Schlaf, oder auch nur Dösen, minutiöses Dösen. Aber Sie , Herr Kreutzer, sind kein Naturwunder. Also verschwenden Sie nicht Ihr Kapital.
Und hüten Sie sich», jetzt ist Xerxes’ Stimme kaum mehr zu hören, «vor falschen Allianzen. Fremde Rüstungen und Waffen fallen dir vom Leib, oder sie erdrücken und erdrosseln dich. Anders ausgedrückt: Wer oder was fischt unter Ihrem Namen im Trüben? … Rhabarberlappenfotze , Herr Kreutzer!», drückt er durch die Zähne, jetzt schlägt er bei jedem Wort das orangefarbene Büchlein, den Zeigefinger zwischen die Seiten geschoben, auf den Tisch, dass das Porzellan klirrt: «Hängebauchschwein … Mösentangalecken … Sagen Sie nichts, Herr Kreutzer, ich weiß, dass das nicht Ihre Sprache ist. Also! – wessen Sprache ist es dann … ? Antworten Sie nicht – ich weiß, dass Sie nichts wissen. Aber dieser Doppelgänger muss aus der Welt geschafft werden. Ich
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