Wach (German Edition)
Jungen vornübergebeugt, die Schulranzen auf den gekrümmten Rücken dem Regen dargeboten, aus ihren Mündern rinnt Spucke auf den Bordstein. Aus der Nähe erkennt August, dass die Jungen versuchen, einen Käfer zu treffen. Der Käfer sitzt reglos, neben ihm schlagen die Lachen auf den Stein. August will sehen, wann die Jungen den Käfer treffen, doch sie bemerken den Zuschauer und gucken ihn misstrauisch an, da verzieht er sich.
Die Hauptstraße der Schlösschenfreiheit ist eine abgewirtschaftete Fußgängerzone. In den Pflanzenkübeln liegt Müll. Es sind nur wenige Leute hier, die Mall hat der Fußgängerzone selbst die Schulschwänzer entzogen (die allerdings würde sie gern zurückgeben). An einem Zeitungsladen, der zugleich eine Trinkstube ist, begegnet August erneut den Versen: Was tue ich/wenn ich/pleite bin? Vor einem Internetcafé, das auch Tabakgeschäft ist, werden sie noch einmal wiederholt; die Aufmacher der Boulevardpresse geben jeden Tag ein Motto aus, in dessen Licht die Stadt dann erscheint. Rausverkauf! steht im Schaufenster eines Matratzenladens. Als August durch die Scheibe blickt, sieht er, dass das Geschäft schon leer ist. Andere Ladenlokale sind verrammelt, Fenster und Türen mit Brettern zugenagelt, Rollläden verrostet, überall blättert und bröckelt es, und durch die Ritzen tritt es heraus, als wäre innen alles aufgeschwemmt und angeschimmelt. Eine Gewerbeeinheit ist neu hergerichtet, hier hat sich ein Vermieter Mühe gegeben: Die Räume sind picobello, hell gestrichen, die Böden mit Klötzchenparkett belegt. Ob sich ein Mieter finden wird? Leerstand ist ja nicht die Regel, es gibt durchaus Geschäfte. Handyläden bieten auch vierrädrige Elektro-Chopper für Kinder an, es gibt Tintennachfüller und Geiz-Shops, dazwischen einen übrig gebliebenen Herrenausstatter mit beigefarbener Markise. Einige Geschäfte haben noch geöffnet, andere sind schon geschlossen (zentrales Zeitregime fehlt, denkt August, die Straße hat kein Management). Auffällig sind die zahllosen Friseure, MäcCut oder fun-t-haar-sia . Trinker sitzen nicht in Kneipen, sondern in Imbissen; aus dem Happy Grillo starren zwei Glupschaugen nach draußen, ob der Mann durch die dicken Brillengläser etwas sieht? Der Geschenke-Club fordert auf: Nicht neugierig? Trotzdem reinkommen! Zählebiges Kleingewerbe, Änderungsschneider, Schuhreparaturen, Schlüsseldienst; einige Ketten, Brot und Brötchen , Bräunungs-Center mit Rabattkarten für Vielbräuner, HappyBet oder textielSupers , zahllose Filialen mit homöopathischen Margen. Trotzdem, hätte die Fußgängerzone mehr Ketten, ginge es ihr besser. Der Begräbnis-Discounter wirbt mit dem Slogan: Nie wieder zu viel bezahlen . Das ist eine stark expandierende Kette, in der großen Marktbereinigung einer krisenfesten Branche steht sie auf der Sonnenseite. Sie wollte auch eine Filiale im LustschlösschenCenter eröffnen, der Vermietungsmanager hat damals Rücksprache mit August gehalten, aber die Policies der Künstlichen Paradiese sind eindeutig: keine Waffen, keine Erotik, keine Beerdigungen. Im Schaufenster sind preisgünstige Bestattungslösungen ausgestellt. August senkt Kopf und Oberkörper zur Seite, er will sein Spiegelbild so drehen, dass er sich im Sarg liegen sieht; aber seine Beine baumeln immer über den Rand. Er setzt sich wieder in Bewegung und lässt seine Einkaufstüte schwingen, in der drei Hosen und eine Packung Margarine liegen, da spürt er Leben.
Hier und da findet er Schaufenster, wie es sie in der Mall und in der City nicht gibt, murkelige, missratene, übrig gebliebene, die reizen ihn. An der Scheibe der Bierquelle kleben vergilbte Zeitungsausschnitte, vor dreißig Jahren ist David Bowie hier gewesen. Tote Augen von Kleiderpuppen starren ins Nichts: CHico Creation Pelz & Leder . Ein Sammlerladen stellt interessante Stücke aus, Plakat für ein Lustspiel im Stadttheater Görlitz 1909, die alte Autogrammkarte eines haarigen Fußballers (er ist jetzt Sportkommentator im Fernsehen, bartlos grau geworden). Das Mickrige, Abweichende dieser Schaufenster trägt schon die Ankündigung seines Verschwindens in sich, das gefällt August.
Und noch etwas fesselt ihn, Geschäfte von hoher Gleichförmigkeit; er kreuzt umher, hält Ausschau, biegt in Seitenstraßen ab, kehrt in die Fußgängerzone zurück: überall Spielotheken. Von Ketten dominiert, bleiben die Spielhöllen doch ein Graswurzelgewerbe, sind eingezogen in viele verlassene Ladenlokale. August sieht nirgends
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