Wach (German Edition)
Gestalten, die man hier sieht, den Sortierer etwa, einen nicht überempfindlichen Afrikaner, der Knochen, Pappteller und Plastikgabeln aus den Speiseresten fischt; erst wenn diese Arbeit erledigt ist, kann man ihnen die Flüssigkeit austreiben, um sie in poröse Flocken zu verwandeln, Grundstoff für nützliches Biogas. Oder den Rampenmeister, der, Pott in der Hand, einen Müllwagen einweist: ein bulliger Mann, sein Ohrläppchen ist in die schlabbrige Wange verwachsen, sodass ihm, wie eine Lefze, eine einzige lange Hautfalte vom Ohr bis zum Hals reicht, die sacht mitschwingt, wenn er am Kaffee nippt. Ein Papiercontainer wird hochgehoben und in einen Laster entleert. Sein eigener Körper erscheint August mickrig und dürr. Er öffnet das Jackett, einen Hemdknopf auf Nabelhöhe, zieht das Unterhemd hoch und legt die Hand auf seinen Bauch, drückt mit dem Finger hinein, betastet dann Brustkorb und Rippen: Seltsam, dass da Fleisch dran ist. Bei diesem Gedanken muss er lächeln (ein leichtes Ziehen ist in den Wangen, wenn man lächelt, die weichen Wangen werden sich als Erstes auflösen). Er schaut auf die Uhr, gleich ist er verabredet, er nimmt eine Ritalin und geht zurück zum Aufzug.
Leise Musik schwebt durch den Raum, eine sentimentale Violine, begleitet vom Summen einer zweiten, einer Viola, traurig nickend der Continuo, Harfenzupfer wie sanfte Tropfen auf dem fließenden Larghetto. Rappelvoll ist das Divertimento heute Mittag. In der etwas abgelegenen Nische zwischen Tresen und Fenster, vor sich grünen Tee und Kohlrabi-Carpaccio, sitzt Xerxes, er schaut nicht in sein aufgeklapptes Notebook, in dem es Pling macht, und wieder Pling, sondern stiert durch randlose Brille und Schaufenster hinaus auf den Gang; gedrungen wirkt er, denkt August, wird er nicht gleich platzen? Die Melodie, ein langes, sich hinabsenkendes Ausatmen, zwei aufsteigende Töne, ein kurzes Aufschwingen sogar – nur ein Luftholen –, um noch einen Seufzer auszustoßen, eine unendliche Folge von Seufzern, und dann schwebt aus der Höhe der hypnotische Klang eines Countertenors: Ooooommm---
August zwängt sich, in einer Hand Calamari-Salat, in der andern Caffè Nero, zu Xerxes in die Nische. Innerlich noch in der Unterwelt, hat er das Gefühl, aus einer Sphäre der Geborgenheit und des gleichmäßigen Tätigseins auf eine weite, windige Ebene gestellt zu sein, wo man Entscheidungen von ihm verlangt. Xerxes scheint ihn nicht wahrzunehmen. «Und», sagt August, um sich bemerkbar zu machen, «Peggy? Nicht schlecht, was?»
… bra mai fù …
«Was», murmelt Xerxes, ohne August anzusehen, «das – ja – ja, finde auch … aber schauen Sie mal das da », und er deutet auf die Scheibe: Im Gedränge des Gangs stehen eine Frau und ein Kleinkind und essen Schokoladeneis. «Bei diesem Anblick durchströmt mich wütendes Mitleid », stößt er leise hervor, August fürchtet, er kippt gleich mit dem Gesicht ins Carpaccio; aber Xerxes, den Blick langsam auf August richtend, sagt: «Überhaupt geboren zu sein, Herr Kreutzer – denken Sie das! Es ist ja eine Tragödie, und die tragischsten Menschen sind immer die eben erst geborenen. Leben zu müssen – sterben zu müssen –, das ist zu viel für einen Einzelnen –» Wieder das Luftholen, di vegetabile , und noch höher, cara ed amabile , und doch wieder hinabsinkend, und über einen Triller weiter hinab: soave più , und von neuem … Xerxes spießt mit der Gabel einen Kohlrabilappen auf, August stochert im Salat, ertrunken im Sepiadressing. Die Stimme wiederholt ihren Text, setzt die Melodie fort –
Xerxes, Meister der Stimmungsumschwünge, unterbricht die Schwermut mit einem Händeklatschen:
«Auguri übrigens, Herr Kreutzer, tanti auguri. Aber jetzt auf ans Essen! Vertrödeln wir nicht die Pause!» Er nimmt einen Schluck vom grünen Tee, wärmt seine Hände an der Porzellantasse und fragt: «Was tun wir denn, Herr Kreutzer? Wippen wir auf ergonomischen Stühlen und vermieten Ladenlokale? Bauen wir Brünnlein, sammeln Kleingeld in seichtem Wasser? Sitzen sentimental im Schatten von Grünzeug, das morgen verdorrt sein wird? Sitzen wir rum , frage ich Sie!? Antworten Sie nicht; ich kenne Ihre Antwort. Nein: Wir erzählen eine große Story. Ein Epos von Ohnmacht und Macht. Von Pleitegeiern und himmlischen Heerscharen. Von Untergang und Auferstehung, Agonie und Erlösung, dusk and dawn – kurz, von Tod und neuem Leben! Rinascimento, Herr Kreutzer: Wir stehen am Vorabend eines neuen
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