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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albrecht Selge
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den Mund. Aber warum sind sie denn hier drinnen und nicht da draußen? Weil es hier nicht stinkt, weil ihre Kinder hier nicht in Urinlachen, Glasscherben, Hundehaufen tapsen, weil hier weder geraucht noch belästigt wird. Würde die Mall die aus der Lebensbahn Geworfenen dulden, die Usurpatoren des öffentlichen Raumes, dann würden alle diese Frauen nicht mehr kommen, das ist klar.
    August geht nicht zu einem der Ankerläden Textilien, sondern in ein kleineres, teureres Geschäft, die Filiale einer angesagten Modekette aus Finnland. Seh ich deine Augen funkeln , fistelt eine Männerstimme, lang nach Sternen ich im Dunkeln – nach dir, nach dir . Ein farbiger, sehr dünner Verkäufer, in engen karierten Hosen, mit zwei Ringen an der Unterlippe, kommt zu August und fragt ihn nach seinen Wünschen. Ich möchte rauf zum Himmelszelt, von oben blicken auf die Welt – mit dir, mit dir. Der Verkäufer schlägt drei Hosen vor, August sagt zu allen ja. In der Umkleidekabine hängt er sein Jackett über einen Bügel und zieht die Anzughose aus. Als er in Hemd, Unterhose und Socken dasteht, bemerkt er im Spiegel, dass sein Gesicht lang und dünn ist. Er legt den Kopf zur Seite, da wird es breit und speckig. Das gefällt ihm, er wiederholt das Spiel mit den Fingern. Wenn er die Hand hebt, sind die Finger lang und dürr wie die einer Hexe, wenn er die Hand um neunzig Grad senkt, werden sie zu dicken Wurstfingern. Ob es Absicht ist, dass hier ein gewölbter Spiegel hängt? Oder hat sich der Spiegel einfach verzogen? Dann beachtet August auch die angeschrägten Eckspiegel. Mit deren Hilfe kann er sich von der Seite sehen, schaut er nach links, sieht er sein rechtes Profil, schaut er nach rechts, sein linkes. Wegen der doppelten Spiegelung sind die Seiten nicht verkehrt, sondern originalgetreu – nein, in Wahrheit doppelt gespiegelt, aber auf diese Weise dem Urbild wieder gleich; man darf glauben, tatsächlich sich selbst anzuschauen. Es ist befremdlich, das eigene Profil in Bewegung zu sehen, als wäre man Darsteller und Zuschauer eines Films gleichzeitig. Er sieht seiner eigenen Gegenwart zu: Ich erinnere mich an die Gegenwart. Er hebt den Kopf, dreht ihn quer, öffnet dabei weit den Mund, sodass er den eigenen Gaumen von unten betrachten kann, und sieht die komplette Reihe seiner oberen Zähne, es sieht aus wie ein Modell beim Zahnarzt (oder wie das Gebiss eines Totenschädels). Es ist jetzt achtzehn Jahre her, dass ich achtzehn war.
    «Hallo?», sagt eine Stimme. Die Musik ist ja aus. Es ist still. Der Vorhang bewegt sich, als wehte draußen ein Lüftchen. «Sind Sie da drin?» Ist da etwa Xerxes? Ist er August gefolgt? Was will er denn: commitment, passion? «Brauchen Sie Hilfe?» Nein, das ist die Stimme des Verkäufers, August meint, unter den Worten ein fast lautloses metallisches Reiben zu hören, als ob die Lippenringe aneinanderwetzten. Jetzt zu Manja? August drängt es, etwas nicht Vorgesehenes zu tun: nach draußen zu gehen, hinaus aus der Mall, hinaus

    ins Freie. Wie angenehm ist der Sprühregen. Die Wassertropfen scheinen nicht von oben zu kommen, nicht zur Erde zu fallen, sie spritzen und stäuben durch die Luft, quer und kreuz, horizontal und sogar aufwärts, wie leichtfüßiger Nebel. Die frische Luft erinnert August daran, dass er heute ausgeschlafen ist, er fühlt sich wieder, wie morgens in der Straßenbahn, vollkommen klar und wach; den Hunger spürt er nur als Schwerelosigkeit. Er schreitet eine Reihe von Holzgaragen ab. Ein Mann putzt im Regen sein Auto, aus dem offenen Garagentor kommt Swing. Ein paar Schritte noch, dann ist August in der Schlösschenfreiheit. Welcher Bildungshuber, hat Xerxes ihn neulich gefragt, hat sich eigentlich diesen geschraubten Namen ausgedacht? Alle Angestellten nennen den Bezirk, der das Center umgibt, Schlösschenfreiheit, aber niemand erinnert sich, woher der Name rührt. August ist nicht der einzige Fußgänger ohne Regenschirm, bei leichtem Nieseln spannt hier niemand einen Schirm auf, und bei der Schwerelosigkeit des Regens würde ein Schirm ohnehin wenig nützen. Augusts Kleidung fällt allerdings auf, in der Nähe der Mall ist die Herkunft von Anzugträgern leicht zu erraten, also sieht er zu, dass er Abstand gewinnt.
    In diesem Viertel kommt es darauf an, denkt er, worauf man achtet, auf die verschmutzten Gehwege oder die prächtigen Altbauten. Ein schnauzbärtiger Mann trägt eine Palette Nusspli in ein Jugendstilhaus. Vor einer repräsentativen Fassade stehen zwei

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