Wach (German Edition)
nun denkt er, dass er den Crème-brûlée-Brenner gekauft hat, hat zur Verödung der Warenhausregale nur noch beigetragen, die werden ja erst in Monaten wieder aufgefüllt; da wird ihm schwindlig, sein Kopf schwirrt, er ist im Bauch einer riesengroßen Dronte, plumper Dodo, da rumpelt die Dronte los, hebt ab, fliegt vor der Ausrottung davon und trägt als fliegende Dronte den runtergeschluckten August mit sich fort – und August geht in die Knie, lehnt sich an die Plexiglaswand, die Treppe rollt weiter, der Rücken schubbert schräg die Scheibe entlang, August legt die Hand aufs Laufband, das läuft schneller, als die Treppe rollt, zieht die Hand voran und wirft ihn auf die nächste Etage, und wie er da liegt, denkt er, gleich stürze ich, gleich jetzt. Alles in Ordnung, fragt jemand von fern, und August rappelt sich auf: «Danke, geht schon wieder.» Er braucht keinen Kaffee, sondern etwas zu essen; und frische Luft: Es ist diese verbrauchte Warenhausluft gewesen, nach über hundert Jahren haben die Warenhäuser noch immer nicht das Problem der Warenhausluft gelöst. Als er hinaus in den Regen kommt, merkt er, dass er nass ist, er muss schon die ganze Zeit durchnässt gewesen sein. Obwohl der Regen waagrecht und sogar aufwärts zu sprühen scheint, haben sich große Pfützen gebildet.
August geht wieder in die Seitenstraßen. Das Gebiet, in das er hier gerät, ist eine Zone der Sozialberatungen und kostenlosen Mittagstische, Hausaufgabenhilfen, Bürgertreffpunkte, über den Straßen schwebt der Geist des Quartiermanagements. Es sind kaum Fußgänger unterwegs. Ein Müllcontainer steht mitten auf der Fahrbahn, als hätte jemand eine Barrikade errichten wollen, aber gleich den Mut verloren; so drückt der Müllcontainer nicht Aufruhr, sondern Verzagtheit aus. Irgendwo hier muss auch die Wärmestube sein, die von der Mall unterstützt wird, wo genau, weiß August nicht, obwohl er schon mal da war, mit Xerxes, sie sind mit dem Taxi gekommen, denn Xerxes hat gesagt, wir dürfen da nicht mit dem Scharlachroten vorfahren, als Nemesis in der Suppenküche . In der Wärmestube haben sie Hände geschüttelt und einen Scheck überreicht, das Bezirksblatt hat fotografiert. Als August denkt, die Gegend ist ihm ganz fremd, kommt er auf einen Platz, den er kennt, eine Kirche auf einer Verkehrsinsel, umgeben von einer Grünfläche mit Spielplatz und Skateboardrampe. Auf dem Platz vor der Kirche werden Stände aufgebaut. Hier ist er neulich gewesen, er coacht den Markt, der dienstags stattfindet, für den Stiftungspreis Deutschlands vitalster Wochenmarkt; in den Kategorien Standgestaltung & Warenpräsentation, Freundlichkeit, Angebotsvielfalt & Qualität ist der Markt jetzt viel besser aufgestellt: August hat einen Öko-Bauernhof akquiriert und dem Trödler die Hardcorefilme ausgeredet. Aber heute ist ja gar nicht Dienstag, und es wird auch schon dunkel. Da fällt August ein, morgen gibt es ein großes Stadtteilfest, auch das gefördert von der Stiftung Vitale Stadt, die sogar einen eigenen Stand haben wird, organisiert von Peggy Fleck. Schade, dass es so nieselt. August umrundet die Kirche. Aus dem Gemeindehaus kommt eine Gruppe junger Mütter, ihre winzigen Kinder sind in Regenanzüge verpackt oder liegen in Kinderwagen unter Kunststoffplanen: die ersten Menschen mit Regenschutz, die August hier sieht; aber er wundert sich, eine Mutter-Kind-Gruppe abends um halb zehn? Im gelben Licht einer Laterne zeigt sich der Sprühregen in schwereloser Anmut. Weiter unten, am Laternenpfahl, entdeckt August ein Bügelschloss, von dem die gleiche graugrüne Farbe abblättert wie vom Pfahl, es muss schon ewig an der Laterne hängen, hat einen Anstrich abbekommen und das allmähliche Altwerden und Abblättern auch dieser Farbschicht mitgemacht; Laterne und Schloss scheinen ineinander verwachsen, eine Metapher, denkt August, er weiß bloß nicht, wofür. In einem Geschäft brennt noch Licht, ein Antiquariat. Als August die Tür öffnet, klingelt ein helles Glöckchen, eine Frau schaut von einem Buch auf und grüßt mit einem Nicken, dann liest sie weiter. August kann sich ungestört umsehen. In einer Kiste liegen Landserheftchen, einige Regale sind mit Theologie und Philosophie gefüllt, Abaelard, Adorno, Albertus Magnus, Althusser, Anselm von Canterbury, Apel, Aristoteles, und August zieht ein Buch seines Namensvetters aus dem Regal, Bekenntnisse Lateinisch/Deutsch , der helle Schutzumschlag nachgedunkelt, stellenweise eingerissen, eine dicke
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