Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albrecht Selge
Vom Netzwerk:
«Die Politiker denken nicht daran, auch mal Geld zurückzugeben.» August, Steuerzahler, setzt gerade zu einem verächtlichen Gedanken an, da hört er das Wort «Asoziale»: herausgequetscht von einem Mann, der die beiden Trinker im selben Moment beobachtet hat. Er hat nicht August angesprochen, sondern für sich geschimpft, trotzdem fühlt August sich unangenehm berührt, nicht von dem Mann, sondern von der Versuchung, die er vorführt: sich gehenzulassen im Rumgehen, entsetztes Rumgehen zu sein, oder rumgehendes Entsetzen. Er flüchtet vor dem Mann, der ihn vielleicht gar nicht bemerkt hat.
    Zurück in der Fußgängerzone, stößt er auf ein Warenhaus, einen hohen, abgeschabten Betonkasten (soll einer sagen, die Mall sei hässlich); das also war einmal das Rathaus, der Dom der Fußgängerzone. Das Haus ist umbenannt worden, es heißt jetzt Ihr Nachbarschafts-Kaufhaus . Früher hat die Warenhauskette bundesweit mit dem Slogan Ideen leben geworben. Das Haus ist noch eine Stunde offen, August geht hinein. Gleich hinter dem Eingang werden Regenschirme angeboten, eine naheliegende Idee, aber niemand greift zu, es ist kaum ein Kunde da. August sieht sofort, was sich im Warenhaus getan hat, seit er das letzte Mal hier war: Einige Bereiche sind für zugkräftige Untermieter abgetrennt worden; so drückt die Mietlast weniger schwer (denn die Kette hat ihre Gebäude an einen Investor verkauft, um sich Geld zu verschaffen, und überweist jetzt hohe Mieten nach London). August wirft einen Blick in die Filiale einer Drogeriekette. Hier ist mehr los, die Kunden packen Windelpakete, Kosmetik, Bio-Konserven in ihre Einkaufswagen. August geht zum Regal mit den Baldriandragees. Dort steht eine junge Frau und liest sich den Text auf den Packungen durch, vergleicht vielleicht die Dosierungen; August mag das Gefühl der stillen Verbundenheit mit anderen Baldriankäufern. An der Kasse gibt es Verwirrung, ein älterer Mann will ein Bettlaken bezahlen. «Das ist doch hier aus dem Kaufhaus», sagt er, und die Verkäuferin erklärt ihm: «Aber nicht von uns, wir sind ein eigenes Geschäft, Sie müssen das an den Kassen draußen bezahlen.» Das bekannte Dilemma, denkt August, das Warenhaus versucht, ein Shoppingcenter zu werden; ein Dinosaurier mit winzigem Kopf und vier säulenartigen Beinen, der plötzlich den aufrechten Gang probiert, oder besser, eine Dronte, die zu fliegen versucht. Er schlendert herum, fährt mit der Rolltreppe in den ersten Stock, Stoffe & Kurzwaren , ältere Frauen kaufen Meterware, die es hier noch gibt, vier achtzig den Meter, da kleckert nicht viel zusammen. Ein Mann in Brioni fällt August auf, ein Developer vielleicht, Retail Solutions, der sich schon mal umschaut? August fährt weiter in den zweiten Stock und lässt seinen Blick über die Regale schweifen, das Sortiment ist nicht plausibel, hier Luxus, dort Ramsch, heillos vermischt, noch dazu Lücken in den Regalen, unübersehbare Logistikprobleme: im Frühling keine Blumentöpfe, im Sommer keine Badehosen, im Herbst keine Drachen, im Winter keine Schlitten und keine Handschuhe. Die Filialleitung ist eben kein Center-Management, sie muss sich selbst um die Logistik kümmern, während das Center-Management die Mieter machen lässt, vertikale Anbieter, und sie muss vor der Zentrale kuschen, wo das Center-Management frei entscheidet. Was Warenhäuser einmal gewesen sind! August denkt an den Bildband bei sich zu Hause, Schwarz-Weiß-Fotografien von Überfluss, Glitzern, Staunen; davon nicht einmal mehr eine schattenhafte Ahnung, nur trübes Dämmern. Ob es den Shoppingcentern auch so ergehen wird? Lösungen sprießen, blühen, welken, sagt Xerxes; die ersten Malls sind ja längst im Niedergang, früher waren sie Wunder an Größe und Vielfalt, heute sind sie von gestern. Aber hier … das Preisschild für Spaghetti-Portionierer Edelstahl klebt an einem leeren Regalboden, dafür sind zwei rote Lasagne-Formen da und jede Menge Crème-brûlée-Brenner, aber Siebe sind aus, zwei nackte Haken ragen in den Raum. August erschrickt vor der Leere der Haken, der Leere der Regale, der Leere der Gänge, und als wollte er etwas wiedergutmachen, kauft er einen Crème-brûlée-Brenner. Dann fährt er weiter nach oben, um im Panorama-Restaurant eine Tasse Kaffee zu trinken. Doch als er auf der Rolltreppe steht, in der Hand die Tüte mit Margarine, drei Hosen, Baldriandragees und Crème-brûlée-Brenner, schaut er hinunter und sieht sich selbst durchs leere Warenhaus gehen, und

Weitere Kostenlose Bücher