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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albrecht Selge
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einen Menschen hineingehen oder herauskommen, stattdessen immer nur sich selbst, als Betrachter, in blickdicht verspiegeltem Glas, auf dem Spielsalon der Extraklasse steht und goldene Krönchen prangen (nein, gelbe, nicht goldene) oder das mit Münzenbergen und Goldbarren beklebt ist, oder in Scheiben, hinter denen dunkle Papierbahnen hängen. Die Spielotheken sind viel länger als die Mall geöffnet, dreiundzwanzig Stunden, von sieben bis sechs oder von sechs bis fünf, irgendein Gesetz zwingt sie, ihre Gäste sechzig Minuten lang rauszuschicken. Spielhöhlen, denkt August, und stellt sich vor, es gäbe Menschen, die wirklich in diesen Höhlen ohne Tageslicht lebten. Nur einmal blinzeln sie heraus, im Morgengrauen, zur stillsten und kühlsten Stunde; wenn sie Glück haben, nieselt es dann, denn sie lagern sich in ihren Höhlen um Eis, nicht um Feuer, sie halten sich nicht warm, sondern kalt: in die Einsamkeit gewanderte Völker, Neandertaler, die sich um ihre Ausrottung gedrückt haben. Verborgen vor Homo sapiens und Erderwärmung seit dreißigtausend Jahren, warten sie auf neue Eiszeiten, die ihrer Anpassung entgegenkommen. Aber das Klima spielt gegen sie, und so müssen sie auch in Zukunft auf ihr Beharrungsvermögen setzen und hoffen, dass sie nicht entdeckt und ausradiert werden. In einer Nebenstraße sieht August eine Frau Mitte vierzig, um deren Hals eine Lesebrille an einer Schnur hängt, die Frau fegt den Bürgersteig vor einer kleinen Spielothek; sie hat nichts von Neandertaler, sondern ähnelt einer Sachbearbeiterin im Center-Management. August gefällt es, dass sie sich durch den Regen nicht vom Kehren abhalten lässt. Als sie damit fertig ist, trägt sie einen Eimer zu einem kleinen Beet am Straßenrand, entfernt mit einer Plastiktüte einen Hundehaufen, klaubt Zigarettenkippen auf und gießt schließlich die Blumen (auch das ist August sympathisch, Blumengießen trotz Regen). Bei alldem zeigt sie keine Spur von Eile, erst als sie die Arbeit erledigt hat, geht sie zurück in die Spielothek. August schielt ihr nach, aber er kann drinnen keinen Menschen erspähen.
    Die große Straße, auf die er kommt, muss einmal der Zubringer zur Fußgängerzone gewesen sein. Es herrscht Durchgangsverkehr. An einer überdachten Bushaltestelle schmust ein Teenagerpärchen. Der Junge wirkt gehemmt, das Mädchen etwas aktiver, aber auch ihre Bewegungen erscheinen noch tastend, suchend. Diese Unsicherheit erinnert August an sein Leben mit fünfzehn, beherrscht von Einschüchterung; damals hat er unter dieser Gehemmtheit gelitten, heute vermisst er sie. Da hält ein Bus, der Fahrer schaut fragend zu dem Pärchen, das ihn nicht beachtet, und fährt wieder los, ohne die Türen geöffnet zu haben. August geht weiter. Aus dem Fenster eines dritten Stocks sieht er ein beschriebenes Laken hängen:
Ich lieb
Dich
mein
Engel
    Der Wind bewegt das Tuch, aber nur wenig, als wollte er bloß nicht zu heftig hineinfahren, und die Regentropfen scheinen das Tuch gar nicht zu berühren. Passanten werfen im Vorübergehen einen Blick nach oben, über manche Gesichter huscht ein Lächeln. August bleibt stehen und fixiert das Laken. Nur zwei Wörter teilen sich eine Zeile, das Ich und das lieb stehen beieinander, als wären sie untrennbar verbunden; zugleich tritt das Ich bescheiden zurück, als wollte es keine andere Eigenschaft haben, als zu lieben. Alle anderen Wörter stehen für sich, das beschwörende Engel , das sehnsuchtsvolle mein , das anrufende Dich . Satzzeichen fehlen ganz, ebenso das Endungs- e , aber das D ist groß geschrieben. Ob die Frau, an die – das Mädchen, an das sich die Botschaft richtet (oder könnte ein Mann gemeint sein?), jeden Morgen hier vorbeikommt? Ob die Liebeserklärung etwas bewirkt hat, bewirken wird? Jetzt hat August das Gefühl, ihm sitzt was unter der Haut, das nicht Zerfall ist, nicht Zerbröseln; aber gleich ist ihm wieder, als gehe ihn das alles im Grunde nichts an, und während er weiterläuft, verschiebt sich seine Wahrnehmung erneut. Er sieht ein streitendes Paar, die Frau beschimpft im Gehen den Mann. Vor einem Mülleimer steht eine alte Frau, sie zieht unter ihrem ausgebeulten T-Shirt einen Getränkekarton hervor und wirft ihn weg, zieht einen zweiten Karton hervor, einen dritten, einen vierten, wirft einen nach dem anderen weg, die Kartons waren unter dem T-Shirt nicht einmal zusammengefaltet. Jetzt ist die Frau ganz dünn geworden. Auf einer Bank sitzen zwei Trinker, der eine sagt zum anderen:

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